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Garmisch-Gardasee

Tag 9: Gaislachalm - Vent

„In deinem Kopf möchte ich nicht zu Hause sein" sagten sie immer. Sie, die Eltern, die Lehrer, die Erwachsenen. Ich wollte übrigens dort auch nicht sein, aber ich war alternativlos. Ich war anstrengend. Für die Welt. Für mich. Paul Watzlawick hatte ich noch nicht gelesen, aber ich fand rein intuitiv, dass „wie man an die Wirklichkeit herangeht für das ausschlaggebend ist, was man finden kann". Die Elternrealität war fremd, langweilig und schwarz-weiß. In meinem Kopf war alles bunt, voller Gedankenblitze. Das hat sich bis heute nicht geändert. Aber ich habe gelernt, wie sich das Chaos in die Ruhe und das Glück des Nichtstuns verzaubern lässt.“

Nein, das ist nicht mein Text und auch nicht mein Kopf. Das ist ein wunderbarer Artikel aus dem Magazin Bergwelten von Atha Athanasiadis mit dem Titel „Ode an die Waldameise“ (08/2022). Ein detailreicher Bericht über das Entdeckung der achtsamen Beobachtung (am Beispiel von Waldameisen). Sehr humorvoll schildert er seinen Weg zur Entspannung durchs Brotkrümel Werfen, um deren Abtransport im Detail zu begutachten.

„Das war's. Ich hatte meine Erleuchtung. Je mehr Bröckerl ich in den Haufen schnippte und je mehr Ameisen in die Transportkette einstiegen, desto ruhiger wurden Körper und Geist. Nichts außer Lebenserhaltung war da in mir. Nur Atmen, Schauen, totale Zufriedenheit, die völlige Reduziertheit auf das Sein.“

Er beschreibt eine Art Meditation durch Beobachtung. Die völlige Fokussierung auf diese eine kleine Fortbewegungskette, die Leere durch mentale Beschäftigung in der absoluten Ruhe.

So nehme ich Fernwandern auch wahr. Wenngleich ich mir im Gegensatz zu den Waldameisen extrem schnell vorkomme und der Beobachtungsflow somit nur teilweise einsetzt. Ich liebe die Langsamkeit, das Lauschen des Plätscherns der Bäche, das Hören von Rinnsälen und Wassermassen, das Knirschen der Steine unter den Wanderschuhen, das Kippen der Holzbretter beim Überqueren von Wasser. Mein Blick schweift über Gräser, Blumen und Gesteinsarten. Ich lasse mir Zeit, bin so beschäftigt mit dem Entdecken des Außen und mit dem, was das Außen mit dem Innen macht, dass das Wandern selbst zur Nebensache wird und sich nur dann laut meldet, wenn die Anstrengung größer als die Entdeckungstiefe wird. Meist werde ich von anderen Wanderern überholt. Jeden lasse ich vorbei, um mein Tempo zu gehen, hier und da beim Sitzen den Blick in die Ferne schweifen zu lassen. Auch im Nirgendwo passiert so viel - man muss nur genau hinsehen, oder eben genau in sich hineinsehen, (was nicht jedermanns Sache ist.)

Heute wandern wir ins Nirgendwo. Von der Gaislachalm Richtung Vent auf dem Panoramahöhenweg. Zunächst über Wiesen, dann über schroffes Geröll steigen wir Stück für Stück auf zum Tiefenbachferner. Die Sonne brennt schon morgens heiß herab. Am Wegesrand sind Disteln und indisches Springkraut zu finden. Die Pflanzenwelt wird zunehmend weniger, immer mehr Geröll ist zu passieren. Hier und da rinnt ein Bach ins Tal. Ein französisches Pärchen überholt mich. Er läuft oben ohne. Der Schweiß wird von der üppigen Brustbehaarung gebremst. Sein weicher Bauch wippt im Takt der Schritte. Dazu trägt er einen Bucket-Hat, das Ding, was man jahrzehntelang gruselig hässlich fand, bis es in diesem Jahr Influencer wie Lena Gercke als Accessoire trugen. Die Ukrainischen ESC-Sieger schafften es sogar bis zum Ende der Sendung nicht unter der Hutkrempe des pinken Fell-Bucket-Hats durchzuschauen. Augenkontakt? Überbewertet. Doch die Krempe dieses (wohl noch von damals aus dem Planschbecken existierenden) Exemplars scheint nicht groß genug zu sein und so werde ich freundlich gegrüßt. Der Bauch bestätigt den Gruß und nickt mit. Ich folge dem Bauch mit dem Eierwärmerhut und erreiche irgendwann den Tiefenbachferner - eine Art riesen Parkplatz, komplett asphaltiert mit Wendeschleife, zwischen Geröll, Geröll, nochmals Geröll und wenigen abgedeckten Gletscherresten. Ich war hier schon lange nicht mehr skifahren. Ich hatte diese Pisten als sehr schön zum Carven in Erinnerung, wären da nicht so viele Sonnenskifahrerinnen in hautengen Ganzteilerskianzügen, schwarz-weiß-glänzend mit Strasssteinen von Sportalm Kitzbühel oder teuerer, dazu passend ein Fellmützchen, Bognerski, einem eigenen gutmütigen Skilehrer und wenig Talent, aber einem umso dickeren Geldbeutel. So grau und kahl wirkt der Gletscher wenig chic und hip, weit weg von Moet & Chandon, eher so sexy wie eine nackte Ratte. Was sich im Winter zu einem malerischen Ort verwandelt, bietet dem Wanderer nichtmal einen Kaffee oder ein Kaltgetränk am Mittag.

Langsam zieht sich der Pfad über das leicht begrünte Geröll. Immer wieder sind Stufen und Plattenwege geschaffen worden, um Geröllfelder überquerbar zu machen. Steil geht es links hinab ins Tal. Auf der gegenüberliegenden Talseite sieht man breite Furchen, die sich parallel wie die Falten eines Plisseerocks auffächern. Einige Wasserfälle entspringen dem Gletscher und finden ihren Weg ins Tal. Nach Stunden und Kilometern entdecken wir Vent am Ende des Tals, weit unter uns. An einer Abzweigung deutet sich endlich der Abstieg an, nachdem wir bisher kaum an Höhe verloren haben. Ein schmaler Trampelpfad führt uns über Wiesen sanft talwärts. Irgendwann stoßen wir auf einen Fahrweg, dessen Kehren durch Abkürzungen verbunden sind. Unsere Beine sind müde, als wir schließlich Vent erreichen. Ich erinnere mich dunkel an den Ort. Vor 29 Jahren war ich schonmal hier.

Den Gasthof, in dem es Eis mit bunten Schirmchen und Glitzerpuscheln gegeben hat, hätte ich blind gefunden. War wohl das Wichtigste. Schnell mache ich am Wegweiser des Brandenburger Hauses ein Vergleichsbild: je mit super verspiegelter Sonnenbrille, beide musste ich dringend haben.

Mein Name ist Nela. Ich bin eine freiheitsliebende Entdeckerin, voller Neugierde Neues zu finden, zu sehen, zu versuchen.

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