Die Welt ist schnelllebig, laut und bunt. Alles ist miteinander vernetzt und ständig wird man von allerlei Nachrichten und Erinnerungen beschallt. Die Gesellschaft kommt sich wahnsinnig weltoffen, tolerant und woke vor. Und doch drehen sich Medien und Aufmerksamkeit um grün-rote Wiederholungsschleifen aus Klimanotständen, Heizungsgesetzen und frei zu wählenden Pronomen. Und auch im Job hängen doch viele in einer Art Firmenkulturblase. Man ist unter sich, tickt ähnlich, hat ähnlich Ziele und ähnlichen Druck. Und so bedarf es eines Ausbruchs aus den gedanklichen und politischen Einheitsautobahnen, eine Zeit in der sich der Geist völlig frei entfalten kann - in der er vielleicht auch zeigt, was alles Verborgenes in ihm steckt. Das einsame Wandern alleine befreit von gewohnten (übergestülpten) Denkstrukturen und lässt in einer gänzlich unvernetzten Welt die nötigen „Laborbedingungen“.
Anna Schneider (die WELT) schreibt vortrefflich diese Woche:
„Um ein Waldgänger zu sein, bedarf es einer großen Portion Mut oder noch viel eher: Furchtlosigkeit. Beides ist allerdings eher nicht en woke in einer Welt, in der man sich lieber auf Opfergruppen als auf sein eigenes Ich besinnt. (…) „Das eigentliche Problem liegt eher darin, dass eine große Mehrzahl die Freiheit nicht will, ja dass sie Furcht vor ihr hat. Frei muss man sein, um es zu werden.“ (…) „In diesem Sinne symbolisiert der Wald mehr als jede andere Landschaft jenen Raum der Freiheit, in den sich das um seine Autonomie kämpfende Individuum zurückzieht, um sich den autoritären Gültigkeitsansprüchen der Gesellschaft und ihrer Selbstrechtfertigungsideologien zu entziehen.“
Dabei zitiert sie die Philosophen Alexander Grau und Ernst Jüngers. Ein Artikel, der mir aus dem Herzen spricht.
Dreieinhalb Wochen bin ich unterwegs gewesen von Salzburg nach Bregenz, drei davon alleine - alleine mit mir und meiner mal bunten, mal grauen, mal komplexen, mal einfachen Gedankenwelt. Ja, man muss frei sein, um frei zu werden. Und es bedarf einer Furchtlosigkeit, um alleine loszuziehen. Nun war ich im bayerischen Oberland und nicht alleine in der Wildnis, sodass sich die Gefahren in Grenzen hielten. Dennoch sind Individualfernwanderer eine bestimmte Spezies Mensch - furchtlos, frei, dankbar für das Kleine, reflektiert und meist offen gegenüber Begegnungen und neuen Impulsen für das eigene Denken.
Ich habe mich anders erlebt als auf den letzten Wanderungen. Achtsamer, aber undisziplinierter, was ich persönlich als Erfolg verbuche, denn der Urlaub sollte für mich ein Raum möglichst frei von Erwartungen und Druck sein. Ich lies mich treiben, hörte auf mich und meine Kräfte. Schon an Tag 4 nahm ich das Kleine, Blumen und Blüten in Wiesen und am Wegesrand wahr. Ich spürte den sanften, warmen Wind in meinem Gesicht. Ich freute mich über Schnecken, die meinen Weg kreuzen, beobachtete das Spiel des Lichts der untergehenden Sonne in Seen und sah unterschiedliche Wolkenfarben und -formationen. Ich konnte an vielen Stellen einfach nur sitzen, oder im Gras liegen, und genießen. Diese gänzliche Erfüllung mit innerer Zufriedenheit war für mich das Highlight der Tour.
Dennoch gab es Tage, da zogen dunkle Wolken auf. Jener Bodensatz des Ichs, wie ich es bezeichne, ist deutlich weniger und weniger trüb geworden. Trotzdem gibt es ihn und da ich kein Wegsperrer bin, versuche ich ihn analytisch in seine Einzelteile zu zerlegen. Auch hier habe ich während dieser Wanderung einen riesen Schritt nach vorne gemacht. Ich habe Zusammenhänge, Handlungsmuster und Bedürfnisse identifiziert, die mir bisher unverborgen blieben, bzw. aus einer anderen Perspektive betrachtet wurden. Am vorletzten Tag fühlte ich mich so leicht, als könne ich fliegen. Ich ruhte in mir selbst, genoss das Leben und sprudelte von Energie und Ideen. Dieses Gefühl hab ich fest abgespeichert als neue Referenz.
Es war eine Tour voller Impulse und Begegnungen. Willi, der durch seine Diskussion über mentale Gesundheit irgendwo auf einem Schneefeld in Erinnerung blieb. Ich solle mein Mindset unbedingt behalten und nach außen tragen, meinte er. Oder die Verkäuferin am Königssee, die meinte im Urlaub nehmen wir Dinge anders wahr. Ja das ist so richtig, doch ich möchte meinen Geist immer so offen wie im Urlaub halten. Alexander von Chiemsee Pilates, der Yogastunden auf der Alm anbieten möchte. Helga, die mir beim Zähneputzen erklärte, die Frauenwelt in technischen Berufen sei wenig weitergekommen im Vergleich zu dem, wofür sie gekämpft hätten. Und die Mannschaft aus dem Staufener Haus, alle samt gekündigte glückliche Menschen Mitte 30 auf der Suche nach sich und mehr Sinn als einem stupiden Bürojob.
Oft werde ich noch zurückdenken an die eine oder andere Begegnung. Manchmal sind es die kleinen Dinge - manchmal ist es ein Satz, der dir die Augen öffnen. Also höre gut zu.
Läuferisch gesehen ist der Maximiliansweg eine Liebeserklärung an Bayern. Er verbindet alle heimischen Gipfel, die schönsten Badeseen und die besten Thermenorte miteinander. Durch das Wechselspiel aus gänzlicher Einsamkeit und leeren Hütten, sowie aus den Hochburgen der Münchner Bussi-Bussi-Gesellschaft taucht man oft kurz ein in das gesellschaftliche Leben, um danach wieder für einige Tage „furchtlos im Wald“ zu verschwinden. Die Entscheidung in die umgekehrte Richtung zu laufen entstand spontan aufgrund des ursprünglichen Wunsches von Salzburg nach Triest zu laufen. Dadurch stimmten die Zeitangaben weder in Alpenvereinsapp noch im Rother-Wanderführer, wobei die meisten mir entgegenkommenden Wanderer bestätigten, dass die Gehzeiten des Buches bei weitem nicht einhaltbar seien. (Kein Wunder, dass sich König Maximilian II damals fünf Wochen Zeit genommen hatte). So ist es - zumindest für den Durchschnittswanderer - immer wieder notwendig hier und da einen Lift zu nehmen. Dem entgegen steht Kathrin Heckmann alias „Fräulein Draußen“, die als Outdoorbloggerin den Maximiliansweg in 10 Tagen Trailrunnend ersprintet ist. Sie ist allerdings um 5Uhr morgens schon mit Stirnlampe gestartet. Und während wandern ihr Job ist, ist es mein Urlaub. Disziplin vs. Achtsamkeit.
In der dritten Woche hatte ich immer wieder Durchhänger, was dazu führte, dass ich hier und da die einfache Alternative gelaufen bin.
Zwei Touren, die ich deshalb unbedingt nochmal einzeln machen möchte:
- Pürschlinghaus- Kenzenhütte auf dem Grat und von dort über die Hochplatte zum Tegelberg
- Nagelfluhkette gesamthaft
Als typischer Ausflugsmünchner kannte ich vor allem die Touren zwischen Wendelstein und Pürschlinghaus. Der Maximiliansweg hat hier aber meine große Liebe für die Allgäuer Alpen, sowie für die Berchtesgadener Alpen geweckt. Beide Regionen möchte ich zukünftig mehr bewandern.
Aus finanzieller Sicht war die Tour der teuerste Urlaub meines Lebens. Durch die Vielzahl an Talübernachtungen in Einzelzimmern und die hohen Preise in Bayern ist das Geld in meinen Händen zerronnen wie Wasser.
Aber es war es wert: Ich hatte 3,5 Wochen Kaiserwetter, unglaublich schöne Ausblicke, inspirierende Begegnungen und sehr viel Zeit für mich. Und so komme ich, als glückliche, sortierte Nela wieder, die aus ihrer Sicht gewachsen ist.
Vielen Dank für‘s Mitverfolgen!