Invalidentaxi Tante Irmi ist da, um meinen kniegeplagten Mann einzusammeln. Das Wetter macht Lust auf mehr: Es schüttet wie aus Kübeln. Das Gewitter hat die umliegenden Orte erwischt, Garmisch nicht. Dennoch - verwöhnt von zwei Wochen bestem Sommerwetter, studiere ich die trockenen Fenster des heutigen Tages in der Wetterapp, sowie die Stecke. Ich beschließe das Hörnle auszulassen (viel zu oft bin ich eh dort gewesen) und ab Oberammergau zum Pürschlinghaus zu laufen. Auch hier habe ich steckenmäßig die Auswahl zwischen der Kolbensattelskipiste, einem Hang meiner Kindheit, und dem Steckenberg, an dem ich hunderten Kindergartenkindern in meiner Studienzeit das Skifahren beigebracht habe. Ich werde jede Unebenheit und jede Aussicht kennen. Trotzdem ist es schön im Sommer - auch wenn es sich heute nicht danach anfühlt - hierzusein.
Invalidentaxi Tante Irmi fährt netterweise noch nach Oberammergau. Wir streifen zu dritt mit Hund durch Cafés und Geschäfte. Ich hab es nicht eilig, sondern warte auf Trockenheit. Die Filiale von Käthe Wohlfahrt hat es uns besonders angetan. Hier ist ganzjährig Weihnachten und der Laden verzaubert mit Christbaumkugeln aller Art. Frei nach dem Motto „Sie nehmen ganz anders wahr, wenn Sie im Urlaub sind“ fülle ich meine Sammlung etwas auf und gebe die Ausbeute den beiden mit…
Ich verabschiede mich. Die nächste Wochen werde ich widererwartend alleine verbringen. Ich bin mir sicher, mein Kopf wird mir noch ein paar Häppchen zum filetieren und durchdenken bieten…
Und so wälzen meine Gedanken ein paar Themen der vergangenen Tage. Mein Hirn liebt Dinge aus 100 möglichen Perspektiven zu betrachten, um vielleicht bei der 98. Betrachtung noch ein neues Puzzleteil zu finden. „Du bräuchtest mal einen Aus-Knopf für dich selbst“ hat ein Freund mir neulich sehr liebevoll gesagt. Und in gewisser Weise hat er recht, denn zusätzlich zu vielen Stunden Wandern vollbringt mein Geist einen Marathon an Themenbetrachtungen: von eigenen Lebensbereichen, über Politik, Arbeit, Wirtschaft und natürlich das Einsortieren der Gespräche der Hüttenbegegnungen. Und manchmal weiß ich nicht was anstrengender war: das Laufen oder das Denken. Aber: genau deswegen bin ich hier. Ich mag es zu beobachten, was bei 3-4 Wochen Sinnieren herauskommt. So viel Zeit des Denkens/Justierens steckt manchmal in Monaten, eher Jahren. Und so habe ich bei jeder Wanderung das Gefühl, ich wachse: an Struktur in meinem Kopf und an Begegnungen und Impulsen derer, denen ich sonst im Leben nicht begegnet wäre.
Ich laufe schnellen Schrittes den Schotterweg hinauf. Das letzte Mal als ich hier gewesen bin, bin ich in der Coronazeit eine Skitour gegangen, nur im schließlich 5min hinabzufahren. Mein Rhythmus hat sich verändert. Nach zwei Wochen und einem Ruhetag scheine ich voller Energie zu sein. Vorbei an Kran und Waldarbeiten passiere ich einen Bogenschieß- Erlebnispfad. Die Ortschaften scheinen sich viel einfallen zu lassen, um Familien einen spannenden Tag abseits vom Skitourismus zu bieten. Immer wieder sehe ich Werbeschilder der Sommerrodelbahn, die an der Kolbensattelhütte startet. Ich passiere sie und folge einem schmalen Waldpfad auf gleichbleibender Höhe. Die Sonne ist rausgekommen und der Regen hat sich verzogen. Der Weg geht in einen Fahrweg über. Wieder sitze ich verträumt auf meinem Rucksack und sehe in die Ferne, während vorbeikommende Wanderer sich Sorgen machen. Meine Angewohnheit mich auf meinen Rucksack, statt auf den Boden zu setzen, bzw. auf die nächste Bank zu warten scheint nicht weit verbreitet zu sein. Ich sehe oben das Pürchlinghaus. Ein paar Höhenmeter weiter erreiche ich früh am Nachmittag die Hütte.
Hüttenleben & Begegnungen
Die Rucksäcke bleiben aus Vorbeugung vor Bettwanzen im Rucksackraum. Alles muss in Jutebeutel umgepackt werden. Ich wünsche mir eine Dusche, doch es gibt keine, denn das Haus ist noch nicht an die Quelle angeschlossen und die neu gebauten Duschen können nicht benutzt werden. Wenn ich etwas hasse, dann ist das Katzenwäsche an Wandertagen… Ich gebe mein bestes mich einigermaßen herzurichten und meine Wäsche zu waschen, bevor ich mich den Rest des Tages in die Stube setzen werde. Inzwischen regnet es wieder und dunkele Wolken scheinen Gewitter zu bringen. Ich setze mich in eine Ecke und trinke ein alkoholfreies Weißbier. Die Essenskarte gibt keine großartigen Schmankerl her, sodass die Gefahr in einen Apfelstrudel-Kaiserschmarren-Rausch zu verfallen nicht gegeben ist. Kaiserschmarren, so kann man lesen, gäbe es hier auf der ehemaligen Jagdhütte von König Max II Joseph eh nicht, denn er, und nicht ein Kaiser, hatten hier das Sagen.
Ich möchte ein wenig aufholen und Blog schreiben… „wie voll ist Ihr Fass der Disziplin denn schon?“ hat mich neulich jemand gefragt. Sehr voll, denke ich, und so schreibe ich auf dieser Tour nur, wenn mir danach ist und lass mich ansonsten treiben von der Natur und den Gesprächen. Und auch heute wird es anders kommen. Auf der Fensterseite der Stube scheint es Netz zu geben, denn alle schauen in ihr Handy. Ich setzte mich zu Claudia. Sie ist allein unterwegs und feiert morgen, auf ihrer Tour, ihren 52. Geburtstag. Meine Platzwahl hat meine Abendgestaltung der nächsten zwei Hütten entschieden, denn Claudia erzählt mir energisch jedes Detail Ihrer gescheiterten Beziehung (inkl. Bettqualitäten ihres Partners), jedes Detail ihrer Tochter, ihrer Nachbarn und diverser Jobs. Immer wieder versuche ich mich zurückzuziehen und dem Schreiben zu widmen, doch schon unterbricht ein „nicht zu viel Arbeiten!“ meinen gedanklichen Fokus. Sie bezieht Julius und Katja, ein junges preußelndes Pärchen am Nachbartisch, mit ins Gespräch ein. Es ist deren 5. Hochzeitstag, den sie hier feiern. Katja ist Förderschullehrerin im Referendariat und beschreibt ihren Beruf als das Schönste und Erfüllendste, was sie sich vorstellen kann. Selten hab ich jemanden getroffen, dessen Berufswahl so viel Strahlen direkt aus dem Herzen hervorgerufen hat. Sie berichtet, wie achtsam sie mit den aktuellen Bedürfnissen jedes einzelnen Kindes umgehen muss. Stimmung und Fokus können jederzeit wechseln. „Und wenn ein Kind feststellt, dass draußen die Sonne scheint, dann würdigt die ganze Klasse einen Moment, dass die Sonne rausgekommen ist“. Katjas Beschreibungen und leuchtende Augen bleiben als tiefe Bewunderung in meinen Erinnerungen zurück. Wie schön wäre es doch, wenn wir alle mehr im Hier und Jetzt leben würden und den kleinen Freuden mehr Bedeutung schenken würden.
Nachdem die drei in ihr Lager verschwunden sind, komme ich mit einem älteren Pärchen ins Gespräch. Die beiden kleben aneinander wie am ersten Tag. Sie erzählen von ihren Touren, die sie teilweise alleine, teilweise mit ihren erwachsenen Kindern unternehmen. Die Kinder kommen gern nachhause und sind jederzeit beim Wandern dabei. „Ihr habt viel richtig gemacht“, ist meine Zusammenfassung ihrer innerfamilären Erlebnisse. Wir wünschen uns eine gute Nacht. Doch als die Dame, nennen wir sie Helga, als Helga schließlich neben mir beim Zähneputzen steht, hat sie immer noch Energie für einen Ratsch. Und so erfahre ich, dass sie Elektrotechnik-Ingenieurin ist und in einem großen Unternehmen für Nachrichtentechnik eine Führungsposition innehat. Wir unterhalten uns über Frauen in technischen Berufen, über die Quote, die das Leistungsprinzip aushebelt und über die minimale Veränderung, die Helga im Vergleich zu den Zeiten „als wir auf die Straße gegangen sind“ wahrnimmt. Irgendwann kommt ein jugendliches Mädchen ebenfalls in den Waschraum. Wir überfallen sie lachend mit „unbedingt was Technisches studieren“ und gehen schließlich ins Bett.