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Ausflüge

Der Weg in die Freiheit

Düster ist sie geworden, meine Arbeitswelt. Aus dem lauten, schnelllebigen Geschäft, das ich in meinen letzten Wanderungen mit einem Wirbelsturm an Post-Its voller To-Dos verglich, ist ein zäher, lähmender Bodensatz geworden. Ich erkannte das Unternehmen, in dem ich groß geworden war, nicht wieder. Intrigen, Gerüchte, Abschusslisten und Schreien prägten das „Miteinander“. Der Mensch hatte nicht mehr den Stellenwert, den er verdiente. Es sei, „als sei das ganze Werk in einer kollektiven Depression“, zeichnete ein mexikanischer Mitarbeiter ein düsteres Bild.

Bossing [das]: „ständiges Schikanieren einzelner Mitarbeiter[innen] durch Vorgesetzte [mit der Absicht, sie von ihrem Arbeitsplatz zu vertreiben]“ (Duden)

Ich stand neben mir, erkannte mich nicht wieder. Wo war all die Motivation, Spritzigkeit und Leichtigkeit, die mich ausmachte? Ich verlor sie beim Betreten der Tür und vereiste regelrecht in den heiligen Hallen des Werkes. „Love it, change it or leave it“ heißt es immer so schön. Die Veränderung hatte ich lange versucht zu prägen und anzustoßen, doch während meine Mitarbeiter mir dankten, erfolgte Widerhall im Management. Mitstreiter mit Haltung wurden „entsorgt“. Love it - unmöglich: nur wenn man wirklich all seine Werte über Bord wirft. Und so traf ich die schmerzhafte Entscheidung: leave it.

Vor einer Woche war ich in München den schweren Gang gegangen. Nach einem Kaffee mit einem mir wichtigen Freund, der mir Mut zusprach, lief ich Richtung Personalbüro. Meine Stimmung gleichte einer Beerdigung, die Tränen standen in meinen Augen und trotzdem wusste ich: es ist richtig. Traurig und stolz zugleich überreichte ich zwei Freundinnen aus dem Personalwesen meine Kündigung. Eine lange Umarmung später hatte ich es geschafft: Ich war frei.

Eine Woche war seitdem vergangen. Zahlreiche Telefonate hatten mich erreicht: Entsetzen, Traurigkeit und viel Bewunderung und Verständnis. Ich werde noch Wochen brauchen, die Erfahrungen der letzten Monate abzuschütteln und mich meinem neuen Job, auf den ich mich sehr freue, zu öffnen.

Wie als hätte das Schicksal es so geplant, hatte ich im tiefen Winter für den heutigen Abend meine Lieblingshütte reserviert: die Tutzinger Hütte. Hier kreuzten die Anfänge des Traumpfad München-Venedig den Maximiliansweg, den ich letztes Jahr lief. Jedes Mal stand die Tutzinger Hütte für einen Weg zurück in Achtsamkeit und Leichtigkeit, und so solle es auch heute sein, wenngleich ein „zurück“ dieses Mal kein kurzfristiges Zurück, sondern ein Dauerhaftes bedeuten sollte. Nie wieder möchte ich mich so zermalen von einem toxischen Miteinander erleben.

Es ist heiß. Die sengende Hitze drückt auf das satte Grün der Lenggrieser Wiesenlandschaft. Ich nehme die alte, in die Jahre gekommene Bergbahn zum Gipfelhaus Brauneck. Während die Seilbahn surrt, erinnere ich mich daran, dass ich hier vor ca. 15 Jahren meine erste Skitour gegangen bin. Eine Skilehrerkollegin hatte Tourenski vom Nachbarn geschenkt bekommen, die sich als 180cm Antik-Ski herausstellten. Wir schraubten die Bindung passend und stapften die 800 Höhenmeter nach oben. Wie wenig es doch braucht für ein tolles Erlebnis. Und heute sind alle Münchener Schickeria-Wanderer und -Radler von Kopf bis Fuß perfekt ausgestattet, und wirken dennoch gänzlich unzufrieden. Als flüchtete man sich in Equipmentkäufe, um daheim bei jedem Kellerbesuch von der nächsten Wanderung und gänzlicher mentaler Freiheit zu träumen. Ich möchte mich davon nicht ausnehmen… So sinniere ich über mich damals und heute und steige schließlich an der Brauneck Bergstation aus.

Ich starte den kurzen Weg hinauf zum Brauneck Gipfelhaus. Ein paar Kühe liegen zufrieden in der Sonne und beäugen mich kritisch. Ich schenke ihnen wenig Aufmerksamkeit. Überhaupt bin ich gedanklich total abwesend. Das Hamsterrad der düsteren Arbeitswelt arbeitet ununterbrochen in meinem Hinterkopf sein Programm ab. Paraglider starten ihre Flüge. Die bunten Schirme tanzen vor dem weiten Blau des Himmels. Sanft und leicht ziehen sie ihre Kreise, genießen, beobachten, schrauben sich nach oben. Sie stehen in diesem Moment für all das, was mir heute fehlt: Leichtigkeit, Sanftheit, bunte Farben und Freiheit.

Doch mein Geist lässt ihnen wenig Raum und ich folge weiter dem Kiesweg, der sich bald verschmälert und zu einem schmalen Pfad wird. Es geht über kleine Steinpassagen, über Wiesen und durch den Wald. Meine Lunge pfeift und röchelt unentwegt. Wie ein halbtoter Hund höre ich mich an, und genauso fühle ich mich: als hätte mich ein LKW erwischt und ich humpele und schnaufe nun durch die Landschaft. Mir fällt auf, wie groß das Delta zum sonstigen Saisonstart ist. Normalerweise bin ich erschöpft und müde von unglaublich viel Arbeit, laufe mich aber schnell ein und fühle keine körperlichen Einschränkungen. Dieses Mal ist es anders: ich bin erschöpft vom Miteinander, meine Seele ist erschöpft, und somit scheinbar auch der Körper. Ich habe Mühe mich zu konzentrieren. Immer wieder wackeln meine Sprunggelenke, knicken um. Es ist, als hätte ich das Wandern verlernt. Während meine Schwiegermutter fröhlich vor sich hin brabbelt, jede einzelne Blume kennt und sich an ihr erfreut, kämpfe ich.

Am ersten Gipfel, dem Latschenkopf, bin ich froh, schon etwas an Höhe gewonnen zu haben. Ich blicke hinunter zur Stiealm und sehne mich nach einer Sonnenterrasse. Der Pfad führt uns weiter am Grat entlang. Ich erblicke in weiter Ferne den Starnberger See.

Während ich versuche meinem Rhythmus zu folgen, erinnere ich mich an Willi, jenen Arbeitsmediziner, den ich im letzten Jahr auf meiner zweiten Etappe von Salzburg nach Bregenz getroffen hatte. „Am Ende bist du nur ein besseres Zahnrad“ im Konzern, Schulungen würden einen zum leistungsfähigeren Zahnrad machen, aber niemand würde an der Langlebigkeit der Mitarbeiter arbeiten. Er hatte damals empfohlen nach ca. 10 Jahren das Unternehmen zu wechseln, was ich für undenkbar hielt. Nun war ich ein leistungsfähiges Zahnrad, das Schaden genommen hatte. Ob ich, als Zahnrad, Gewalt- oder Ermüdungsbruch erlitten habe, frage ich mich.

Gewaltbruch: „Ein Gewaltbruch ist die Folge einer starken Überlastung – z.B. Verklemmen mit anderen Maschinenteilen. Meist sind sie nicht auf Fehler bei der Auslegung der Fertigung zurückzuführen.“

Ja so war es. Ich hatte mich mit anderen Zahnradln verklemmt. Nun, da ich Zeit habe, innerlich zu heilen, werde ich daran arbeiten wieder den Zustand zu erlangen, um gesund und stark im nächsten Getriebe des neuen Unternehmens meinen Platz zu finden. Dort werde ich achtsamer auf andere Brucharten als Ermüdung schauen, und meine präventive Seelen-Instandhaltung hoch priorisieren. Meine Kündigung war ein Auftakt dafür, die Wahl meines neuen Arbeitgebers ein weiterer Schritt in die richtige Richtung.

Gedankenverloren und müde trotte ich den Kiesweg weiter. Der Regen des Vortags hat die Wege rutschig gemacht. Durch meine fehlende Konzentration lande ich kurzerhand auf dem Hosenboden im Matsch. Ich ärgere mich und frage mich, wo die alte Nela hin ist. Ich scheine derart neben mir zu stehen…

Quälend lang erscheint mir der Rest des Weges unterhalb der Benediktenwand. Was früher ein Nachmittagsspaziergang war gleicht einer Mammutaufgabe. Die Themen der letzten Wochen wirken wie beschwerende Pflastersteine. Das Gedankenhamsterrad rattert unermüdlich - bis ich die letzte Kuppe des Weges erklimme und weiß: es ist nicht mehr weit, das alkoholfreie Weißbier. Das Bild des kühlen Bieres mit einer erhaben wirkenden Schaumkrone lässt für einen Moment allen düsteren Gedanken keinen Raum mehr. Sehnsucht nach dem Weißbier-Moment machen sich breit, jener Erstkontakt beim Ankommen auf den Hütten dieser Welt, an dem sich für einen ganz kleinen Augenblick die Welt still zu stehen scheint, an dem der Tagesabschluss gefeiert wird, an dem ich weder zurückblicke, noch nach vorne und einfach nur das Sein genieße… Während dieser Ode an das Weißbier entdecke ich ein paar Alpenrosen am Wegesrand. In den unwirtlichen Bedingen des Geröllfeldes, das ich gerade passiere, haben sie ihren Nährboden gefunden und sich ausgebreitet. Irgendwo zwischen den düsteren Gefühlen meines vergangenen Arbeitsalltages und dem Traum vom Weißbier, definiere ich für mich, mir ein Beispiel an ihnen zu nehmen und auf dem Geröllfeld meiner Erinnerungen an Ungarn eine bunte Blütenpracht wachsen zu lassen: in meinem neuen Job.

Passend dazu hat mir eine liebe Kollegin und Freundin als Kommentierung zu meiner Kündigung einen Text aus ihrem Lieblingsbuch geschickt:

Angekommen auf der Tutzinger Hütte genieße ich den oben genannten Weißbieraugenblick, und beobachte, wie das Sonnenlicht ein imposantes Farbenspiel auf die Benediktenwand zaubert…

Mein Name ist Nela. Ich bin eine freiheitsliebende Entdeckerin, voller Neugierde Neues zu finden, zu sehen, zu versuchen.

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