Am Morgen empfängt mich die liebenswürdige Vogelscheuche (natürlich mit demselben verfärbten und angesifften Hemd) auf der Terrasse. Ich bekomme ein riesen Frühstückstablett gebracht.
Während die Sonne auf mein Gesicht scheint, und ich im Schneidersitz auf der Bierbank sitze, sprechen mich die einzige zwei anderen Gäste an. Sie scheinen schon gefrühstückt zu haben. Sie sind aus Basel und bewusst früher in Rente gegangen, um viel fernzuwandern. Im letzten Jahr seien sie von Tarifa (Südspitze Spaniens) nach Basel gelaufen, in diesem Jahr laufen sie den Rest des E4 von Budapest nach Basel. Seit Anfang April seien sie unterwegs. Sie wirken glücklich und zufrieden. Hin und wieder nehmen sie aber auch einen Lift, denn es ginge ja schließlich auch im Urlaub. Wir werden uns noch einige Male begegnen und ich werde mir deren Einstellung zu Herzen nehmen. Bisher bin ich gelaufen, habe gegessen und geschlafen. Lange in der Sonne gesessen am Endziel des Tages habe ich leider nie. Bei 10h laufen, 11h schlafen, Frühstück, Abendessen und Waschen, fehlt mir meist auch die Zeit zum schreiben. Und da sind wir wieder beim „Trauern“, beim bewusst Abschließen. Denn das Schreiben hilft mir sehr, den Tag Revue passieren zu lassen, und bereit für den nächsten zu werden.
Ich laufe los, folge wieder dem gestrigen Fahrweg, nur dieses Mal weiter hinab Richtung Marquartstein. Der Weg ist etwas langweilig, nicht sonderlich herausfordernd. Ein Schotterweg führt über Serpentinen ins Tal. Ein bisschen sieht es aus wie auf der Berchtesgadener Milchflasche: Die Kühe in der weiten Wiesenumgebung und auch der Bauer scheint optisch 1:1 aus der Milch entsprungen zu sein.
Meine Gedanken hängen bei den Gesprächen des letzten Tages. Drei Personen, drei liberale Ansichten des (Zusammen-)lebens haben sich gestern mir präsentiert. Sie alle eint eins: eine perfekte Fassade. Bei zweien ist sie um den Haushalt gezogen, bei einem durch den Haushalt. Warum ich das weiß? Weil ich nichts verurteile, solange jeder glücklich ist. Und so frage ich mich heute: warum feiern wir den pride month im Juni, wenn es solcher Fassaden noch bedarf? Ist in diesem pride month Begriff wirklich jede Form von Vielfalt enthalten? Ist Toleranz überhaupt der richtige Begriff? Sollte man Vielfalt nicht viel mehr feiern als tolerieren? Und ist nicht das Gendern der Sprache die größte Fassade überhaupt, denn man versteckt sich hinter Begriffen und Sternchen statt einfach „ein toller Mensch“ zu sein, egal wie? Wär nicht „Mensch“ ein super unkomplizierter Oberbegriff, der niemanden benachteiligt, für all die Vielfalt, die es gibt? Denn wenn ich anfange, alles einzeln benennen zu wollen, werde ich unweigerlich immer irgendeine Minderheit nicht benannt haben.
Und so denke ich, über die so bunten Gespräche mit diesen tollen Menschen nach, von denen ich mir wünsche, dass es irgendwann keiner Fassade mehr bedarf.
Ich folge den langweiligen Fahrweg gedankenversunken bis Marquartstein. Ein Ort, über den man zu meiner Jugend sagte, hier kämen die Münchner nicht erziehbaren Kinder ins Internat. Schön ist es hier, stelle ich fest. Fast ein wenig traurig bin ich bei dem Anblick des Ortes, dass ich wohl doch erziehbar genug war. Ich wäre hier gerne zur Schule gegangen.
Ich überquere die Tiroler Ache, auf der ich weiter oberhalb in der Entenlochklamm schon einmal Kajakfahren war. Es war die erste Strecke, auf der ich im „Wildwasser“ meine Eskimorolle schaffte, nachdem ich den ganzen Winter im Altenheimschwimmbad im Hasenbergl geübt hatte. Sehnsucht nach Kajakfahren kommt in mir auf. Ich hab definitiv zu viele Freizeitideen für zu wenig Zeit.
Nach einer erfolglosen Eiscafésuche verlasse ich den Ort Richtung Hochplattenbahn. Ich erinnere mich an die Worte der beiden Schweizer und spare mir 400 Höhenmeter Aufstieg durch Nutzung des Sesselliftes. Am heutigen Mittwoch kostet die Bergfahrt nur 50%. Das schreit doch nach einer kurzen Auszeit… Und vielleicht kann ich ja heute Nachmittag dann einfach mal in der Sonne sitzen und nichts tun.
Es wird anders kommen.
Oben angekommen, lege ich eine kurze Weißbierpause ein, bevor ich wieder einem Fahrweg folge.
Er zieht sich und die Hitze brennt auf mein Hirn hinab. Irgendwann sitze ich mal wieder im Schatten auf meinem Rucksack und mache ein Päuschen. Einige Stunden später werde ich von den zwei vorbeikommenden Radlern gefragt werden, ob ich dort auf ein Taxi gewartet habe. Irgendwann verlässt der Fahrweg die Baumgrenze und gibt einen wunderschönen Blick auf das bayerische Meer - den Chiemsee frei. Und in dem Moment denke ich an meinen Kollegen, der mir das Wohnen in Niederbayern so ans Herz legt. Nein, ohne richtigem See, mit den hunderten Segelbooten, die ich hier erspähen kann, ohne diese ganzen Hütten und Almen und ohne gscheide Berge - so echte - mit Felsen, wird das echt nichts mit Niederbayern. Ich liebe Oberbayern viel zu sehr. Ich melde mich kurz bei ihm und schicke Grüße nach Dingolfing, bevor ich auf der Piesenhausener Hochalm nochmal kurz einkehre.
Die frische Buttermilch schmeckt supergut und der Liegestuhl mit Aussicht läd zum Verweilen ein. Zwei Radler (die mit der Taxifrage) sind am Aufbrechen. Einer scheint Pilateskurse am Chiemsee anzubieten. Die Almmädls, er und ich sinnieren über Yoga auf der Alm. Die Wiese mit Aussicht würde sich hervorragend dafür eignen. Nach der Arbeit müsse man aufsteigen, dann gäb es 1h Yoga, anschließend Abendessen und schließlich steigt man wieder ab. Alle würden profitieren. Wir vernetzen uns kurz und ich verspreche zu kommen, sollte es so eine Almyogaeinheit geben. Langsam muss ich wieder weiter, denn auch heute hab ich noch einiges vor. Die Kampenwand ruft und es ist schon wieder 17Uhr. Das zum Thema „Rumsitzen und schreiben“. Ich sitze heute zwischendurch zu viel rum…
Jetzt beeile ich mich und ich beschließe die Südroute auf der Kampenhöhe zu gehen, um auf dem schnellsten Weg zur Sonnenalm zu gelangen. Ein schmaler Pfad erfordert noch einmal Konzentration und Motivation. Ich laufe und laufe, über steine, Pfade, kraxel hoch und kraxel runter… die Hütte ist schon lange im Sichtfeld. Und irgendwann, endlich, sehe ich die hässliche rote Plattenbau-Rückwand der Sonnenalm vor mir.
Innen ist die Alm superschön renoviert. Sie ist auf hochpreisigen Tourismus poliert, zumindest, was die Stube angeht. Die Zimmer hingegen sind eher Löcher als Zimmer. In meinem 6-Bettzimmer für 100€ (!) bleibe ich heute Nacht Gott sei Dank alleine. Wir sind drei Gäste. Zum Abendessen setze ich mich zu den zwei deutschen Financestudenten aus London. Wir ratschen kurz, bevor sich jeder wieder zurückzieht. Gegen halb 9/9 werde ich aus der Gaststube geschmissen, denn die Wirtin müsste ja nur wegen mir aufbleiben. Bei so viel Freundlichkeit im Service kommt Freude auf…