Der Weg startet in Anzonico ähnlich, wie er gestern endete. Die Strada Alta führt mich über Wiesen, durch Waldstücke und kleine Dörfer. In Sobrio verpasse ich einen Wegweiser des Trans Swiss Trails und folge (wie oft seit dem Vierwaldstättersees ausreichend) der rot-weißen Markierung. 200 Höhenmeter tiefer stelle ich fest, dass ich dadurch mir den Tag noch beschwerlicher gemacht habe, als ohnehin im Reiseführer beschrieben. Ich folge dem Weg weiter und komme an eine steile Hangkante. Von dort aus blicke ich über das Leventinatal. Wieder dominieren Autobahn, Bahngleise und Industriehallen die Optik. Vor mir geht es ca. 700 Höhenmeter quasi senkrecht hinunter. Und genau diese Höhenmeter muss ich nun auf Steinstufen ins Tal absteigen. Ich komme an meterhohen Wänden vorbei, in denen Kletterhaken hängen. Riesige Granitbrocken lassen vermuten, dass hier und da, dann und wann ein Stück Hang abbricht. Meinen Fußsohlen steckt der lange gestrige Marsch noch in den Knochen. Sie brennen bei jedem Stritt, den ich durch meine Stöcke abzufedern versuche. Stufe für Stufe, Höhenmeter für Höhenmeter, Stunde für Stunde nähere ich mich dem Tal. Während der eigentliche Weg den Abstieg bis Pollegio aufgeteilt hätte, steige ich nun aus Verstehen auf direktem Weg nach Bodio ab, um ab dort dem Fluss Ticino bis Pollegio zu folgen. Irgendwann, mit einer Stunde Verlust, erreiche ich Bodio quasi durch die Hintertüre. Der steile Abstieg endet jäh hinter einem Tennisplatz... Auf der Hauptstraße empfängt mich das Dorf mit einem üblichen Durchgangsortcharme. Eine Table Dance Bar in einem heruntergekommenen Haus wartet auf ihre Wiedereröffnung nach Corona. Auf deren Terrasse sitzt ein Pärchen beim Nachmittagskaffee. An einem Kiosk wartet eine gelangweilte Dame auf Kundschaft. Als ich mit meinem einitalienischten Spanisch versuche Schokolade zu kaufen, wirkt sie, als wäre das der Einsatz, auf den sie den ganzen Tag gewartet hat. Engagiert präsentiert sie mir stolz die ganze Bandbreite an Sorten. Am liebsten würde ich sie wie bei Pippi Langstrumpf im Süßigkeitenladen eine große weiße Tüte füllen lassen... Ich kaufe schließlich eine der angepriesen Sorten und wandere essend weiter...
In Pollegio stoße ich wieder auf den ursprünglichen Weg. Die Sonne hat sich in der Zwischenzeit hinter dichten Wolken versteckt und mein Traum von einem großen Eisbecher in einer Gelateria in der Sonne Biascas ist geplatzt. Zwischen Fluss, Autobahn und Hochspannungsleitung führt mich der Weg weiter. Unter der Autobahn durch und über ein paar Straßen erreiche ich endlich Biasca. Einzig ein paar Palmen erfreuen mein Gemüt. Ansonsten hat der Ort außer Migros, Aldi und einem Baumarkt wenig zu bieten. Direkt hinter einer Autowerkstatt komme ich in einem Albergo unter, dessen Gänge mit Planen abgehängt sind, da sie angeblich renoviert werden. In meinem düsteren Zimmer ohne Fenster schlafe ich dennoch tief und fest für zehn Stunden nach diesem anstrengenden Tag...