Die Weinbegleitung war eine gute Entscheidung, wir haben wunderbar geschlafen und trotz Pantani-Kokser-Suite sind wir wieder aufgewacht. Als Abschied bekommen wir zwei Gläser Marmelade. Wir ertappen uns wir wir jeweils das Glss prüfend in unserer Hand zu wiegen versuchen. 300g Geschenk on top eine Woche lang tragen? Wir nehmen jeweils ein Glas in den Rucksack und ziehen los Richtung Monte Peller.
Zunächst überqueren wir die Schnellstraße, bevor wir vorbei an Apfelplantagen auf einen Waldpfad einbiegen. Wir stehen mitten im Unterholz. Der „Weg“ gleicht einer Ansammlung an Gartenabfällen, sodass wir durch Brennnesseln, Äste und Zweige waten. Die Motivation gleicht einem üblichen Montagmorgen.
Auszug aus meiner Gedankenwelt:
Und es ist wie bei jeder großen Aufgabe, bei jeder Herausforderung: aller Anfang ist schwer. Der erste Schritt ist faktisch genauso schwer wie der letzte, wahrscheinlich aufgrund der Faktenlage einfacher zu werten, da die physischen Kräfte über den Tag schwinden. Dennoch erscheint der erste Schritt oft als unlösbare Aufgabe, sei es an einem Montagmorgen unmotiviert die 1400 Höhenmeteretappe anzugreifen, oder eine schwierige Aufgabe, ein Wagnis anzugehen, von dessen Ergebnis man sich viel verspricht, der Ausgang aber noch zu beweisen gilt. Den Elefanten in Scheiben schneiden, kleine Zwischenziele setzen, kleine Erfolge feiern, nicht zu hart zu sich selbst sein, lautet hier die Devise. Oder, siehe Tag 12, um es mit Julia Engelmanns Worten zu sagen „was ist der nächste kleine Schritt?“ So gesehen besteht die heutige Aufgabe aus 32965 nächsten kleinen Schritten (laut Fitbit), also immer schön dranbleiben!
Schließlich finden wir hinter einen großen Stapel Baumstämme den richtigen Weg und beginnen mit dem Aufstieg. Wie auch an Tag zwei (ebenfalls Montag) geistert mein Arbeits-Regeltermin-Rhythmus in meinem Kopf herum. Wir nehmen einige Abkürzungen durch den Wald auf einem recht angenehmen Pfaden. Viele Waldameisen bahnen sich beschäftigt ihre Wege von der einen zur anderen Pfadseite. Der Artikel von Tag 9 kommt mir in den Sinn. Beobachtend stelle ich fest, dass mein Gehirn in Woche drei immerhin schon Gedanken der Woche eins und zwei zitiert und somit den Anschein macht, als falle ihm nichts Neues ein (was ich unglaublich entspannend finde). Es hat mich schon genug beschäftigt, wie ich finde… und trotzdem kommen mir auch bei der Wiederauflage alter Themen neue Perspektiven und Sichtweisen in den Sinn. Gedankenversunken bleibe ich hier und da stehen und notiere mir etwas.
Nach einigen Hundert Höhenmetern stoßen wir auf den Mountainbikeweg und folgen ihm. Ein Schotterweg arbeitet sich kehrenweise den Hang nach oben. Wie gedankenversunken ich wirklich bin, stelle ich fest, als ich unbewusst nach oben blicke: dort steht jemand und starrt mich an. Ich stoße einen erschrockenen Schrei aus, bevor ich realisiere, dass sich mein Mann einen Spaß erlaubt hat. Es wird in den nächsten Tagen nicht das einzige Mal bleiben. „Was ist der nächste kleine Schritt?“. Klack, klack, der Takt meiner Stöcke teilt die 32.965 nächsten kleinen Schritte in Scheibchen. Ich bin so leer, so weit weg von allem, dass ich gar nicht merke wie viel Zeit vergangen ist, als ich die weiten Wiesen eines Hochplateaus betrete. Dafür, dass wir weit über 1000 Höhenmeter hinter uns haben, sieht die Landschaft erstaunlich sanft und flach aus. Wir erreichen Rifugio Peller, dem ersten Zwischenziel, das es zu feiern gilt. Ein malerischer Blick auf die weiten Täler und Gebirgszüge Südtirol (von Piz Boè bis Ciavetta), sowie auf die beeindruckende Steilwand des Monte Peller belohnen die Pause. Herrliche Spinatgnocci und ein alkoholfreies Weißbier warten auf uns. Alles wäre so idyllisch, wenn man nicht im italienisch-sprachigen Trentino wäre und der Komfort somit von der Hässlichkeit von Wachstischtüchern bis zum mangelnden Komfort von Löchern im Boden statt Toiletten reichen würde. Einen Haken gibts immer.
Dafür ist es umso erstaunlicher, dass der Fahrweg nun vollbetoniert ist, während es für eine Toilettenschüssel nicht reicht. Wir wandern weiter, ein BMW X7 überholt uns. Nach einen Parkplatz wird der Weg wieder zum Schotterweg, der uns hinter einem Bergrücken das beeindruckende Panorama der Brenta eröffnet. Es ist so unglaublich schön, dass uns eine Welle des Glücks erfasst. Der frustrierende Vortag ist schnell vergessen. Es ist einer der kleinen Momente der zeigt, dass sich Beißen, Durchhalten und Dranbleiben lohnt, dass nach jedem Tal der Tränen so ein Glücksmoment wartet. Man darf nur niemals aufhören den nächsten kleinen Schritt auf den nächsten kleinen Schritt folgen zu lassen. Vor mir hat sich Max offensichtlich mit einem alten Herren angefreundet. Sie unterhalten sich angeregt. Ich stoße dazu. Der ca 80jährige Herr spricht nur italienisch, hat aber eine große Freude daran, Informationen über seine Familie zu teilen und nach unserem Weg zu fragen. Mit Händen und Füßen und einitalienischtem Spanisch kommen wir gut zurecht. Irgendwann verabschieden wir uns und verlassen den Fahrweg auf eine Wiese. Der Weg scheint wenig gegangen zu werden. Ich suche Markierung um Markierung. Murmeltiere schreien ganz in der Nähe, als würden sie uns den Weg erklären wollen. An einer Hangkante stehend und nach dem Weg suchend frage ich mich, ob ein Basejump hier nicht die angebrachtere Version des Abstiegs sei. Ich folge, gespannt und angespannt zugleich dem Pfad ins Nichts. Er wirkt, als könnte ich von dort aus direkt die nächste Wolke betreten. Am Wegesrand wachsen Edelweiß in rauer Menge. Konzentriert arbeiten wir uns die Basejumpalternative hinunter. Es ist steil und extrem rutschig auf dem Geröll. Just als ich neben dem Gedenkkreuz einer mit 17 Jahren zu Tode gekommenen (im Jahr 1923) stehe, rutsche ich aus und lande auf meinem Hosenboden. Und wie der Zufall es will, gibt es davon ein Livefoto. Auf Tiktok käm diese Nummer in Endlosschleife sicher gut. Ich überlebe lachend und wander weiter. Der schmale Pfad erfordert Konzentration und einen guten Stockeinsatz. Immer wieder geht es links hunderte Meter hinab. Gesichert ist nichts.
Von einem Wandern dieser Etappe ohne Trittsicherheit, Schwindelfreiheit oder mit Kindern ist daher absolut abzuraten.
Beflügelt von den Blicken und der Aussicht stört mich das allerdings wenig. Mein Gefühl für Zeit hab ich vollends verloren und meine Laune scheint sich gewandelt zu haben in einen nicht enden wollenden Brunnen von Glück und bunter Konfetti. Meine missmutig erschöpfte Begleitung lässt sich davon allerdings nicht anstecken und so sind wir froh, als wir nach Stunden den Fahrweg erreichen, der uns nach wenigen Metern zur Malga Tuena führt. Eine Gruppe von Schülern campt in einem Meer von Zelten oberhalb der Hütte. Die Wirte warten schon auf uns. Wo wir losgewandert sind, fragen sie. In Deutschland, antworten wir müde. Die Dusche ist wunderbar heiß und zeitlich unbeschränkt. Frisch duftend in Abendrobe bestellen wir Spaghetti Carbonara und Rotwein. Es schmeckt herrlich. Und während wir genießen, beginnt es zu regnen…