Wir starten in Vent. Es ist nasskalt und gleichzeitig dampfig. Der Weg führt uns über die Skipiste zu einem Fahrweg. Müde und verträumt trotte ich den Weg entlang. Ich beobachte mich dabei, wie ich unbewusst mit der Hand durch die Gräser streife. Die Tropfen des Regens der letzten Nacht benetzen meine Haut. Ich bin überall, nur nicht hier. Meine Gedanken schweifen. Die Schritte meiner Füße nehme ich kaum wahr. Der Weg steigt sanft im Niedertal Richtung Martin-Busch-Hütte an. Im Gegensatz zu gestern ist es saftig grün. In meinem linken Ohr höre ich das Reißen des lauten Gebirgsbaches, während rechts das kleine liebliche Plätschern des Rinnsals neben mir erklingt. Niemand scheint unterwegs zu sein. Der L1-Weg kommt hier auch wieder vorbei, doch Dobby und Winky sind nicht in Sicht. Unsere Wege scheinen sich getrennt zu haben, wenngleich unsere Gedanken bei Gewitter bei ihnen und der nicht vorhandenen Bergerfahrung sind. Auch der E5 (Oberstdorf - Meran) kommt hier vorbei. Dessen Wanderer starten allerdings die Etappe an der Braunschweiger Hütte, sodass mit ihnen erst nachmittags auf dem Fahrweg zu rechnen ist. Und auch Schnellwanderfamilie Högner (siehe Prolog) hat sich dasselbe wie wir vorgenommen, bzw. wir uns ihre Etappe, sodass wir basierend auf den Erfahrungen des zweiten Tages gehörig Respekt vor dem Weg über die Similaunhütte zum Vernagt Stausee haben.
Respekt habe ich auch, da die Similaunhütte immer der Inbegriff meiner kindlichen Wanderverweigerung war. Es gibt innerfamiläre Berichte, ich habe mich beim Wandern bereits in einem Alter, in dem ich nicht wusste, was ein Meter bedeutet, am Parkplatz auf den Boden gesetzt, um lautstark zu protestieren, ich ginge keinen Meter weiter. Auch als irgendwann die extrinsische Motivation von 1 Kugel Eis pro 200 Höhenmetern eingeführt wurde, konnte man mich nie von einem Aufstieg zur Similaunhütte überzeugen, da ich Aufstiege über 500 Höhenmetern konsequent verweigert hatte. Ein wunderschönes Beispiel, wie wenig eine extrinsische quasi-monetäre Motivation bringt, wenn es sich um eine Aufgabe handelt, die weder den aktuellen Voraussetzungen (pummeliges Kind mit Asthma) noch den Interessen des Menschen entspricht.
So trete ich an, zum „Endgegner“ Similaunhütte. Max und ich gehen jeweils unser eigenes Tempo (daher gibt es so viele Bilder von mir von oben aus weiter Ferne). Natürlich bin ich wieder letzte, wie früher, bloß, dass es heute niemanden mehr stört. Genau wie damals bei den Wandertouren halte ich die Zeit der Wegweiser ein.
Das Klopfen der Stockspitzen meines Doppelstockeinsatzes bestimmt meinen Takt. Es ist wie ein Spaziergang, leicht und frei, die Anstrengung kaum spürbar, meine Gedanken irgendwo anders…
Ein Murenabgang, dessen Auswirkungen den Weg versperren, reißt mich aus meiner Traumwelt. Ein Bagger scheint auf der anderen Seite die Sisyphusarbeit des Weg-Freischaufelns angetreten zu haben. Ich bahne mir einen Weg durch den Matsch. Die Mure wirkt wie der rohe Teig von Schokokuchen mit ganz vielen Schokostückchen. Die Stückchen tragen mich durch den Matsch. Nach der Mure bahnt sich der Fahrweg weiter seinen Weg durchs Tal. Nach ca. zwei Stunden erreichen wir die Martin-Busch-Hütte. Sie ist benannt nach dem Treuhänder des Österreichischen Alpenvereins (bis 1952 verwaltete dieser den Besitz des dt. Alpenvereins nach dem Krieg) der ursprünglichen Samoa-Hütte der Sektion Berlin. Ungemütlich und kalt ist es in der Stube. Wir machen bibbernd eine kurze Pause und beschließen schnell weiterzulaufen. Es geht über Kies und Geröll weiter bergauf. Die Similaunhütte ist schon in Sicht. Sie thront hoch oben auf der Kammkante, als erste Station unserer Wanderung in Südtirol. Nach weiteren ca. 2,5h kommen wir an. Einfach war es, wenig anstrengend durch den kontinuierlichen, sanften Anstieg, trotz 1300 Höhenmetern. Der Endgegner hat sich entzaubert. Wir genießen die Aussicht in der Stube und essen zu Mittag. Kaum sind wir in Südtirol, schmeckt es wunderbar.
Eine Familie sitzt in der Stube gemeinsam mit einem Bergführer. Ein kleiner ca. fünfjähriger Bub liegt im Tiefschlaf auf der Bank. Ich erfahre, dass diejenigen eine noch intensivere Tour wie wir machen, dass sie auch bis Vernagt absteigen, und dass es deren erste gemeinsame Wanderung ist. Die deutlich jüngere Partnerin ist wenig begeistert vom Erstkontakt mit dem Wandern. Ihr Mann erklärt indes dem wachen Kind, dass man beim Hinweg von Auf- und beim Rückweg von Abstieg spricht. In mir formt sich die leise Vermutung, dass mein persönlicher Endgegner nur auf andere Personen übertragen wurde. Begeisterung entsteht selten durch Überforderung…
Wir steigen ab. Der kleine Bub geht weinend an der Hand des Bergführers, schließlich sitzt er auf dessen Schultern. Der Weg zieht und zieht sich. Man sieht zwar schon den türkis-grünen See, der uns aber gefühlt kaum näher kommt. 1400 Höhenmeter sind im Abstieg („dem Rückweg beim Bergsteigen“) zu bewältigen. Meine Gedanken sind wieder in ihrer Tagtraumwelt. Sie erinnern sich an unvergessliche Wandermomente im letzten Jahr. Meine Beine tragen mich das Geröllfeld hinunter bis wir schließlich grasende Kühe hören und sehen. Die Glocken brechen die Stille der letzten Stunden. Einen kurzen Moment frage ich mich, ob ich als Kuh nicht ein psychisches Problem bekäme, wenn ich den ganzen Tag dieses Gebimmel hören müsste. Ich folgere, dass ich lieber ein Lindthase wäre, dessen Glöckchen kurz runtergerissen wird, bevor der Kopf dann eh ab ist und somit auch die Ohren. Nach einem langen Tag kommen wir am Tisenhof an, einer urig süßen Jausenstation, die heute unsere Herberge sein wird. Es ist ein schöner alter Hof, dessen niedrige Decken zum Kopf Anstoßen einladen. Jeder Schritt wird vom lauten Knarzen des Holzes begleitet. In einer alten Stube essen wir zu Abend. Die Tochter fragt uns, so wir hinwandern: „joaaa pfiat di Gott“ ist ihre Reaktion.