„…und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen.“ Pippi Langstrumpf
Die Welt ist schnelllebig, bunt und laut. Nach der durchaus angenehmen Ruhe in der Coronazeit, hat sie sich wieder beschleunigt. Unentwegt melden sich diverse Systeme - E-Mails, Chats, To Do-Punkte in Microsoft Teams, Genehmigungen, Sms, 2 Handys oder Teams-Anrufe und buhlen um Aufmerksamkeit und Beachtung. Alles klingelt, bingt und ploppt auf. Der Alltag erfordert viel Aufmerksamkeit für hunderte Parallelpfade - Multitasking auf höchstem Niveau. Dazu sitzt man im „new working environment“ mit vielen vielen Kollegen in einem Raum, sodass es noch ein bisschen mehr bingt, klingelt und spricht. Ob das effizient und richtig ist? Ich weiß es nicht.
Die letzten drei Tage waren - um nun Urlaub machen zu können - ganz besonders wild, laut und intensiv. Vielleicht hab ich mich versucht um zwei Wochen nach vorne zu arbeiten, um nach dem Urlaub zwei Wochen aufzuholen. Jedenfalls habe ich bis Salzburg tausende Kleinigkeiten erledigt und die ganze Nacht von Arbeit, Besprechungen, Kollegen bis hin zum Auto Waschen (!) geträumt. Letzteres ist für mich ein eindeutiges Zeichen, dass der Urlaub absolut notwendig ist.
Eine lange Allee führt von Salzburg kommend zu dem kleinen Ort Glanegg, der am Fuße des steil empor ragenden Untersberg liegt. Die Sonne brennt hinab als hätte das Wetter gewusst, dass heute Feiertag ist. Der Wandererparkplatz ist über und über voll mit Autos. Ein Kiesweg führt vorbei an den letzten Häusern, bevor ein Wegweiser auf den Reitsteig hinweist. Holzstiegen führen steil hinauf in den Wald. Die Vögel zwitschern, irgendwo in weiter Ferne donnert der Lärm der Autobahn. Dieses Duett wird mich den ganzen Tag begleiten.
Gedankenverloren steige ich Stiege um Stiege hinauf. Ich ertappe mich dabei, wie ich permanent aufs Handy schaue - ein Relikt aus den letzten Arbeitstagen - ein Verhalten, das im Urlaub keinen Platz hat. Ich merke, wie wenig mein aktuelles Zeitgefühl zu diesem Anstieg passt. Ich gehe und gehe und scheint nichts zu passieren - exakt der Grund, weshalb ich das Fernwandern als Entspannung ausgewählt habe - und dennoch fühle ich mich seltsam getrieben… Meine Gedanken springen wild umher und bitten um Beachtung: Arbeit, Privatleben, gestern, morgen, Verbesserungsideen, Wünsche, Selbstkritik… nur wenig „hier und jetzt“ ist dabei. In früheren Wanderungen habe ich diesen mentalen Zustand mit einem Tornado aus bunten Post-Its beschrieben, in dessen ruhigem Auge ich sitze, aber alles um mich herfliegen sehe. Normalerweise setzen sich drei Wochen Fernwandern bei mir wie folgt zusammen:
Woche 1: Gedankenwelt des Alltags, Kritik, Verbesserungspotenziale
Woche 2: Ich nenne es „der Bodensatz des eigenen Ichs“, Verstehen, Verknüpfen und Lösen einzelner Themen
Woche 3: Klarer Blick, Leichtigkeit, neue Ideen und Ziele
Seit ca. 2 Jahren beschäftige ich mich regelmäßig mit der Gedankenwelt der Woche 1-2, auch außerhalb der Wanderzeit, praktiziere quasi meinen persönlichen KVP (kontinuierlicher Verbesserungsprozess). Und heute, heute nach der ersten Stunde des Aufstiegs, merke ich mitten im Wald, dass etwas anders ist. Es kommen immer dieselben „Post-Its“ und bitten um Aufmerksamkeit. Diese Themen mischen sich, aus meiner sonst üblichen Woche 1 und 2. Es scheinen folglich sehr viel weniger Gedanken geworden zu sein. Und das erfüllt mich hier im Wald - gefühlt auf Stufe 853 - schwitzend und schnaufend - mit sehr viel Glück und Stolz.
So steige ich weiter hinauf, Pfad um Pfad, Stiege und Stiege und schenke meiner bunt-grauen Gedankenwelt Aufmerksamkeit. Immer noch zwitschern die Vögel, immer noch donnert die Autobahn in weiter Ferne. Einige Wanderer kommen mir entgegen, jung und alt, bunt tätowiert von Kopf bis Fuß, Trailrunner mit nacktem Oberkörper - manch einer sehenswert, manch einer eher weniger. Hunde rennen an Herrchen vorbei, Kuscheltiere schauen aus Rucksäcken hinaus und von Zeit zu Zeit raschelt der schnelle Schritt eines Rehs ganz in der Nähe. Keiner steigt mit mir auf, alle kommen entgegen. Als ich das „Halbzeit“-Bänkchen erblicke, bin ich kurz gefrustet. Laut meiner Uhr sollte ich schon weiter sein. Aufgrund des vorhergesagten Gewitters beschleunige ich meine Schritte. Sehr vertrauenserweckend ist, dass alle paar hundert Meter ein Blitzableiter steht. Dann kann ja nichts schiefgehen.
Ein älterer Herr oben ohne - der Bauch von der Sorte sehenswert, zumindest, wenn man das sehr fortgeschrittene Alter miteinbezieht - kommt mit entgegen. „Da oben, am Ende vom Steilstück baut einer gerade eine Bank. Quasi für dich. Wenn du oben bist, ist sie bestimmt fertig und du kannst sie einweihen“. Ich blicke nach rechts, die Wolken brauen sich zusammen und entgegne, dass das Wetter hoffentlich halte.
„Kurz sitzen und innehalten geht oiwei“
- ein Satz voller Wahrheit, ein Satz, der sitz, ein Satz, der passender nicht sein könnte. Ich sollt ihn mir aufs Hirn tätowieren, spiegelverkehrt, damit ich immer selbst daran erinnert werde. Er erinnert mich an Pippi Langstrumpf:
„…und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen.“
Oben angekommen, gebe ich mein Bestes auf der neuen Bank die Aussicht zu genießen, merke jedoch, dass ich am Tag 1 des Urlaubs noch deutliches Entspannungsausbaupotenzial habe. So weit bin ich heute noch nicht: auf der Maslowschen Bedürfnispyramide stünde Aussicht eher oben.
Mein akuter Durst nach alkoholfreiem Weißbier steht deutlich näher bei den Grundbedürfnissen. Umso mehr freue ich mich nach ein paar weiteren Minuten trocken die Terrasse des Zeppezauer Hauses zu erreichen und eben jenes zu bestellen. Die Aussicht und das Wechselspiel aus Gewitterwolken, Sonne und Regen in der Ferne sind gigantisch. Und so lasse ich den Tag ausklingen und werde Stunde um Stunde immer ruhiger…