Das Leid von gestern und die Angst von morgen sind zwei Diebe, die uns das Heute rauben.
Bist du, lieber Leser, jemand, der eher im Gestern, im Heute oder im Morgen lebt?
Die Angst vor Morgen, ist bei mir nicht sonderlich ausgeprägt. Ich freue mich sehr auf alles, was kommt: ein neuer Job und eine neue Wohnung. Doch das Leid von Gestern lähmt mich, wie ein zäher Brei aus Kleber, aus dem ich mich nur schwerlich befreien kann. Loslassen, abschließen, ein Kapitel beenden, ist nach mehr als einem Jahrzehnt eine Mammutaufgabe und dennoch so wichtig. Erst, wenn Altes losgelassen wird, hat das Neue Platz. Erst, wenn das Leid kein Energiefresser mehr ist, hat das Neue genügend Ressourcen für „Vollgas“.
Eine gute Grundlage hierfür hatte ein Yoga Retreat in Oberösterreich gelegt. Es ging um Achtsamkeit, Entspannung, die richtige Atmung, um die Yogapositionen noch intensiver wahrzunehmen. Vier Tage hatten das Ziel, ganz bei sich selbst zu sein. Ich hätte Wochen bleiben können…
Mit jedem Tag, den meine Kündigung mehr in die Vergangenheit rückt, lässt das Gedankenkarrussel rund um mein früheres Arbeitsumfeld nach. Nicht jeder Tag ist gleich. Mal fühle ich mich freier, mal habe ich das Gefühl einen sogenannten „Heuler“ (Harry Potter) in meinem Hirn zu haben, der nicht aufhören will mich zu nerven. So gerne würde ich wie ein Tatortreiniger mein Hirn putzen, aufpolieren, bis nichts mehr an das Negative, was war, erinnert. „Festplatte löschen“ sei nun meine Aufgabe, hat ein lieber Kollege aus meiner alten Firma gesagt. Und genau das mache ich jetzt auf dem Lechtaler Höhenweg.
Hochmotiviert den neuen nachhaltigen Mobilitäts-Lifestyle meines zukünftigen Unternehmens zu erproben, wähle ich am Vortrag die einzige öffentliche Verbindung nach Lech am Arlberg. Fünf Stunden soll es dauern, statt der Hälfte mit dem Auto. Es gibt genau eine Verbindung mit wenigen Minuten Umsteigezeit. Nach genau 4min platzt mein Traum einer Deutschlandticketanreise - als ich nach zwei S-Bahnstationen in Pasing das „Garmisch-Partenkirchen heute 25min später“ erblicke. Jetzt gibt es genau zwei Optionen: doch Auto fahren oder morgen dasselbe nochmal versuchen. Wenn es die Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit der öffentlichen Verkehrsmittel einfach nicht hergibt, dann wird es auch nichts mit der Mobilitätswende. Mein Mann fährt dankenswerterweise exakt die Zugstrecke ab, in der Hoffnung, mich in Reutte dem österreichischen Postbus übergeben zu können. Knapp geht es sich aus und 68 Bushaltestellen später bin ich angekommen in Lech am Arlberg.
Hier, wo man im Winter seinen Pelz ausführt und sich im schwarzen Leberwurst-Einteiler von Moncler mit dem besten Blick auf das eigene Hinterteil für Instagram ablichten lässt, hat Bescheidenheit wenig Raum. Jeder spricht englisch, überall gibt es Luxusklamotten zu kaufen, die Restaurants sind mit Hauben gekrönt und ohne Sommelier kommt hier keiner aus. Heute kann ich noch ein wenig Schickerialuft schnuppern, bevor mich ab morgen die Schnarcher der Matratzenlager erwarten.
Genussvoll kippe ich eine Kelle Aufguss nach der anderen auf den heißen Saunaofen. Ich liege entspannt auf dem Holz und freue mich den ganzen Spa-Bereich des in die Jahre gekommenen Hotels für mich zu haben. Es ist ein Auftakt der Stille, die mich in den nächsten zwei Wochen erwartet.
Los gehts an der Bergstation der Rüfikopfbahn. Zwei Alphornbläser beschallen die faulen Tagestouristen, die direkt aus der Bahn auf die Dachterrasse gefallen sind und das Donnerstägliche Frühschoppen mit Musik genießen. Ein Steinskulpturengarten ermöglicht ihnen ein paar hundert Meter hin und herzuwackeln und das „wandern“ zu nennen. Nach ca. 20min habe ich alle Touristen dieser Spezies abgeschüttelt und folge dem schmalen Trampelpfad Richtung Stuttgarter Hütte. Ein kalter Bergwind umspielt mein Gesicht. Allein die Luft hier oben sagt mir, dass der Urlaub beginnt. Am Wegesrand blüht ein buntes Blumenmeer und lässt - zumindest optisch - den Eindruck erwecken im Frühling gelandet zu sein.
Wenig anspruchsvoll zieht sich der Pfad in eine satt grüne Ebene hinein. Trotz der konditionellen Anspruchslosigkeit spüre ich (wie auch auf der Tutzinger Hütte direkt nach meiner Kündigung - https://freigeist.art/der-weg-in-die-freiheit/), dass ich bei Weitem nicht die Alte bin. Ein röchelndes hohes Pfeifen meiner Lunge begleitet meine Schritte. Ein paar plätschernde Bäche und das in der Ferne erklingende Läuten der vielen Kuhglocken lenken meine Wahrnehmung hin zu den schönen Eindrücken.
Bevor die weiten Wiesenpfade ihre Fortsetzung finden, fordert ein unterspültes Schneefeld einen kurzen Moment meine Konzentration. Satt grün und dennoch schroff und kahl ist es hier. Könnte auch irgendwo in Neuseeland sein, zumindest in meiner Fantasie. Mein seltsames Röcheln zwingt mich immer wieder zu kleinen Pausen. Und da auch ich älter werde, hat es ein neues Produkt auf meine Packliste geschafft: ein Outdoorsitzkissen. Auch ein physisches Buch ist im Rucksack gelandet, während die Stirnlampe und das GPS Gerät daheim geblieben sind. Es soll ja Erholung sein. Das Kissen ist jedenfalls zustandsbedingt regelmäßig im Einsatz.
Sehr glücklich bin ich heute über den Kauf meines Rucksacks. Mein Ortovox 38l- Rucksack ist in der Reparatur. Die Sehnsucht nach Osprey und dem guten Rückennetz war unglaublich groß: daher ist es ein Sirrus 34l geworden, der sich in der Aufteilung der Taschen und dem Volumen kaum von meinem ersten 36l Rucksack unterscheidet, der seine beste Zeit allerdings hinter sich hatte. Einzig die oberste Deckklappe fehlt, an der mein Kopf eh immer angestoßen ist. Mein Gepäck, das ich auf 8kg schätze, merke ich kaum.
Ein kleiner Kiesweg führt in wenigen Höhenmetern über die Rauekopfscharte, wobei die „Scharte“ eher ein kleines Huckelchen ist. Oben angelangt sieht man schon die Stuttgarter Hütte. Ein schmaler Trampelpfad führt schnurstracks Richtung Weißbier. Und da ist sie wieder, jene Weißbiersehnsucht der letzten Wanderstunde, die mich nochmal motiviert.
Vorbei an ein paar schlafenden Schafen und Kühen, erreiche ich schließlich die Sonnenterrasse der Hütte. Ich nehme mir ein Beispiel an meinen Sitznachbarn, ziehe die Schuhe aus und genieße die Wärme der Hüttenwand. Den ganzen Nachmittag lese und schreibe ich, bis der nepalesische Hüttenwirt zum Abendessen ruft. Es gibt Momos, ein Gericht, das die Stuttgarter Hütte wohl überregional bekannt macht. Es ist vor allem eines: sättigend. Wir erfahren von einer Bedienung, dass Nepalesen dieses Gericht wohl mehrmals täglich essen und es kaum verschiedene Gerichte gibt. Ein junger Sitznachbar, eine Art Joshua Kimmich in jünger mit ähnlich verschnittenem Irokesenschnitt, schwärmt indes vom Wandern in Nepal. Dies müsste man auf jeden Fall mal erlebt haben, auch wenn die Höhe sehr herausfordernd sei. Vielleicht wäre das ja mal ein Abenteuer wert?