Nach einem ausgiebigen Frühstück bei unseren Freunden starten wir los gen Süden. Warm ist es geworden und erst jetzt, in dem warmen Sommerwind, der mein Gesicht umspielt, realisiere ich, dass ich endlich frei habe. Ich genieße die Sonnenstrahlen und die Wärme auf meiner Haut und folge dem Uferweg von Utting nach Diessen. Vorbei an einer Werft, in der ein Ex-Kollege immer sein Segelboot aus dem Winterschlaf holt, schlängeln wir uns durch die Samstagsausflügler.

Langsam wird es immer voller, denn es ist Töpfermarkt in Diessen - das Jahreshighlight des sonst sehr verschlafenen Ortes. Wir schieben die Räder durch die Menschenmengen. Ich muss mich schon fragen, ob die Nachfrage nach (meist nicht spülmaschinenfesten, nicht stapelbaren) Keramikprodukten tatsächlich so groß ist, dass es diesen Ansturm rechtfertigt. Als Kind hatte dieser Markt einen gewissen Zauber: damals, als ich als Teil des Wahlfachs Keramik, Jahr um Jahr Massen an nicht notwendigen Dingen herstellte, war es ein Traum hierherzukommen und die so viel geraderen, so viel schöner bemalten Teile zu bestaunen. Ich erinnere mich von meinem kleinen Taschengeld blaue Ohrringe für 8€ gekauft zu haben (der CFO in mir kennt alle jemals getätigten Kaufpreise), während heute kaum welche für unter 50€ zu finden sind. Ich schlendere ohne Rad an den Ständen vorbei: es gibt alles, was die Welt nicht gebraucht hat. Große Damenfiguren, in ihrer Art wie die oberbayerische Ausgabe von Niki de Saint Phalles Nanas als Gartendekoration für 300-400€, bunte Vasen, von denen es bei Kustermann definitiv hübschere gibt, allerlei Tassen, Gartendeko und Mobile.




Mich faszinierten diese Lebensmodelle: von etwas leben, was wirklich niemand braucht, was einfach nur schön (wenn überhaupt) ist, was einfach nur Spaß in der Herstellung macht. Wie schön wäre es doch, von einem Hobby ganz ohne Druck frei und leicht leben zu können.


Wir fahren weiter Richtung Raisting. Schmunzelnd erinnere ich mich, dass ich mir zum Ende meines Studiums Radlklamotten gekauft habe, mit denen ich hier eine erste Runde fuhr: zum Biergarten Stillern. Sonderlich viele weitere Touren folgten nicht, obwohl ich meinte, nach dem Studium werde ich „sooo viel“ Zeit haben, nämlich endlich die Wochenenden. Es folgte meine Doktorarbeit und der Traum der 5-Tage-Woche endete schnell. Heute trage ich es wieder, das gepunktete Maloja-Trikot von damals. Etwas eng ist es geworden, auch ein Zeichen des fehlenden Sports… Vorbei an jenem Biergarten Stillern verlassen wir meine Homezone, in der ich mich gut auskenne. Irgendwo im Nirgendwo der bayerischen Landschaft radeln wir über Kies und durch Moorlandschaften. Den hohen Peißenberg im Blick geht es die ersten nennenswerte Steigung. Und während ich im niedrigsten Gang trotz Motorunterstützung ordentlich zu arbeiten habe, überholt mich mit einem leisen Suuuuummmm eine Oma, mit Hund im Lenkerkorb, aufrecht sitzend auf einem Cube E-Bike ohne viel zu treten. Erste Fragezeichen kommen in mir auf, die mich noch weiter auf dem Weg begleiten werden… Wir folgen weiter Schotterwegen Richtung Schongau bis irgendwann mein Bianchi-Bike sich zu Wort meldet, da es aufgibt und geladen werden muss. Ich fahre noch einige Zeit ohne Akku weiter bis Peiting, wo wir einkehren. Das Rad darf im alten Kuhstall geladen werden.
Und da war sie wieder, die E-Mobilitäts-Experience, die ich so hasse. Wenn man kürzer fährt als lädt, dann ist es nicht mein Produkt. Wenn ich mich danach richten muss und nicht das Gefährt meinem Tages-Flow folgt, fühle ich mich in meiner Freiheit eingeschränkt. Das Cube meines Mannes hingegen ist noch zu 60% geladen und schreit nach weiteren Kilometern Raderlebnis. Vielleicht hab ich doch zu sehr nach Optik gewählt, wenngleich ich die Sportoptik mit maximaler Reichweite möchte: einmal alles bitte, hübsch und leistungsstark. Ca. 2h Warteerfahrung später, die ich sonst niemals Pause gemacht hätte, ist mein halber Akku voll und wir ziehen weiter.

Die Allgäuer Alpen zeigen sich in der Ferne wie ein kitschiges Gemälde. Grob sollten wir nun auf der Via Claudia Augusta sein, auf deren Spuren wir Richtung Südtirol fahren. Sie wurde 15. v. Chr. von Kaiser Claudius errichtet, um die von seinen Stiefsöhnen eroberten Gebiete in den nördlichen Voralpen mit dem römischen Reich gut zu verbinden. Die damalige Route ging über den Fern- und Reschenpass, wurde von einer Art antiken Asfinag in Schuss gehalten. Pferdewechselstationen, sogenannte Mutationes, säumten den Weg.
Und irgendwie muss ich daran denken, wie ähnlich die Situation plötzlich wieder ist. Die Pferdewechselstationen sind die Supercharger und E-Bike Stationen dieser Welt, weil aus einigen Pferdestärken plötzlich Null geworden sind. Die Pferde waren sozusagen das Sharenow. Würden wir uns an den Römern orientieren, würden an den „Mutationes“ frisch geladene Bosch-Akkus auf uns warten, während wir die leeren in einem Tauschsystem bereit machen für den nächsten erschöpften Reiter mit null PS Reststärke.
Doch da es ein solche intelligentes System aufgrund der Variantenvielfalt und des Individualeigentums nicht gibt, schwappt nun der Eiskaffee, den ich leider aus Langeweile auch noch an der post-römischen „Mansio“ (Raststätte) trinken musste, in meinem Bauch. Muskeln und E-Bike tun indes ihr Mögliches, um das Tagesziel Halblech zu erreichen.

Ein vergleichsweises greisliges Zimmer erwartet uns. Billig glänzendes Vinyl lacht uns vom Boden entgegen, der Balkon ist braun gefliest und intelligenterweise ist der Bergblick mit den Garagen verbaut worden. Dennoch sind wir froh unsere Pferdewechselstation erreicht zu haben und freuen uns über die Dusche und ein kühles Radler.