"Wie ich sehe, haben Sie alles gefunden."
Ich fahre erschrocken zusammen. Gerade dachte ich, ich bin alleine im ganzen Gasthaus. Wie am Vortag erklärt, stand ich hinter dem Holztresen eines Dorfwirtshaus, wie die Wirtin, die ein Bier nach dem anderen zapft und das Gepöbel der Besoffenen anhört. Ich suchte mein Frühstück, schenkte mir O-Saft ein, nachdem ich das passende Glas aus dem Regal genommen hatte und drückte auf die Kaffeemaschine...
Da stand er nun, der Herr des Hauses und sprach mich an. „Isch das Ihrrrr Olternatiiiiivurrrlaub stott den Molediiiven?“ Es folgte ein kurzes Klagen über die Coronaregeln, die ihm seine Geschäftsgrundlage entziehen. Nach einem kurzen Ratsch und zwei Tassen Kaffee packe ich das Lunchpaket ein, das mir mitgegeben wurde und starte in den Wandertag.
Kurz geht es wieder am Fluss Sense entlang. In Mengestorf laufe ich an imposant verzieren Holzbauernhäusern aus dem achtzehnten Jahrhundert vorbei. Die Innenseite des Dachüberstands ist detailliert bemalt, alle Holzelemente sind aufwändig geschnitzt und Sprüche zieren die Hausmauer. In der Hofeinfahrt steht ein hochpolierter Mercedes Van, sodass der Gegensatz aus alt und neu extremer nicht sein könnte. Ich folge einem Weg hinauf auf eine Kuppe, drehe mich um und stehe das kitschigste Panorama, das man sich nur vorstellen kann. Ich genieße in der Wiese sitzend die Aussicht und die Schokolade meines Lunchpakets. Sattgrüne Wiesen, ein Meer aus gelben Blüten, Kühe, die weiden und mit ihren Glocken das Panorama akustisch untermalen, im Hintergrund weiß verschneite Berge, soweit das Auge reicht.
Ich kann mich kaum stattsehen, verweile ein bisschen, doch irgendwann breche ich wieder auf und laufe Richtung Köniz. Das Ortszentrum ist hässlich wie Wolfratshausen, nur neuer. Ich passiere ein paar Betonklötze und verlasse den Ort schnell auf den Könizberg. Hier stehen hübsche Einfamilienhäuser direkt am bewaldeten Hang namens Könizbergwald. Hin und wieder begegnet mir ein Jogger...
Ich folge dem Weg, der Villen und Wald voneinander trennt, bis ich schließlich in Bern ankomme. Hier endet der Wanderweg und irgendwo mitten in Bern startet er wieder Richtung Worb. Wo sonst mitten im Nirgendwo auch ohne Netz stets Verlass auf die Swissmobil-App ist, enttäuscht es mich fast, dass der Wanderweg hier für ca. 30min unterbrochen ist. In jeder Stadt gibt es hübsche und weniger hübsche Wege. Da ich mich nicht auskenne, folge ich nun Google Maps und laufe an einer hässlichen Hauptstraße an Unterführungen, Aldis und Billigfrisören vorbei. An der Monbijoubrücke fahre ich mit dem Aufzug auf Flusshöhe und laufe zur Gelateria di Berna. Hier stelle ich mich in die ca. 50m lange Eisschlange. Ich wähle „Mare di Berna“, „Himbeer-Ingwer“ und neu „Marzipan-Mohn“, wobei letztere die beste Sorte war.
Ich überquere die Aare, die Isar Berns, einem Stadtfluss, der türkisblau schimmert und das Sonnenlicht glitzernd reflektiert. Im angrenzenden Marzilibad trauen sich einige tapfer ins kalte Wasser. Auch hineinzuhüpfen zieht mich förmlich an. So sitze ich lange am Ufer, esse Eis und beobachte die Badenden. Ich verfluche es, dass ich schon im Zielort Worb gebucht habe. Meine Beine sind müde und meine Badelust ist viel zu groß. Nachdem ich nicht einmal die Hälfte des heutigen Wegs zurückgelegt habe, beginne ich mich (mal wieder) über die Zeitangaben des Reiseführers zu ärgern. Ich vergleiche die Kilometerangabe im Buch mit meiner Laufleistung in der Fitbitapp und versuche eine Prognose der ungefähren Ankunftszeit zu treffen. Sie gefällt mir so wenig, dass ich müde und ein wenig missmutig losstapfe.
Nach kurzer Zeit sehe ich einen Surfer an einem Seil auf der Aare. Ich stelle mich auf die Brücke, beobachte ihn kurz bis er fällt und laufe weiter. Es sind viele Menschen unterwegs, vor allem Familien mit Kindern. Ich bin schließlich froh, als nach dem Tierpark der Uferweg wieder leerer wird. Kilometer für Kilometer laufe ich an der Aare entlang. Die Aussicht auf Weg und Fluss ändert sich kaum, aber bleibt traumhaft schön. Ein Grüppchen von Badenden, sich Sonnenden und Grillenden reiht sich an das andere. Und so zieht mir ca. drei Stunden lang der leckere Geruch von Würsteln und frischem Grillfleisch in die Nase. Es ist, als würde man versuchen am Samstagabend am Münchner Flaucher für einen Marathon trainieren zu wollen.
Hinter Muribad verabschiede ich mich von der Aare und folge einem Weg hinauf auf ein Hochplateau. Durch Felder und Dörfer nähere ich mich langsam dem Tagesziel. An einem kleinen Bauernhof, an dem die kanadische Flagge weht, gibt es einen Selbstbedienungskühlschrank und einen Kaffeespender mit Kasse. Mir gefällt die Idee, dennoch schlurfe ich erschöpft weiter.
Die Sonne steht schon tief als ich nach 32 Kilometern endlich mein Airbnb, die „WOW - Wohlfühl Oase Worb“, erreiche. Rüdi und Sonja erwarten mich schon. Ausgesprochen warmherzig werde ich empfangen. Die Gastgeber haben Gäste. Nichtsdestotrotz bieten sie mir an mich dazuzusetzen und etwas zu Abend zu essen. Dankbar nehme ich diese Möglichkeit an und freue mich über die Gesellschaft. Wir trinken guten Rotwein, unterhalten uns gut und lassen den Abend gemütlich ausklingen...