Wunderbar habe ich in meinem Einzelzimmer geschlafen. So wunderbar, dass ich schon um 6:30Uhr komplett ausgeschlafen bin. Ich frühstücke mit den Herrschaften des Vorabends und fahre mein träges Betriebssystem langsam hoch.

Der erste Anstieg des Tages startet auf der alten Terrasse des Hauses. Gleich gehts in kleinen Serpentinen nach oben, zur ersten kleinen Scharte. Von da quere ich wieder. Heute bekommt mein Geist das volle Gegenprogramm zu „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“, denn Verena Pausder und Lea-Sophie Cramer erzählen in ihrem Podcast über den Purpuse des Lebens, den Spaß an der Selbstverwirklichung in der Arbeit, warum Lea immer direkt nach dem Mutterschutz wieder gearbeitet hat und welche Gesundheits-Hacks es fürs ewige Leben gibt. Dass mein Oura-Ring (Tracking Wearable) sich permanent mit Botschaften a la „hey krieg mal deine Gesundheit in den Griff“ meldet, kennt Verena wohl nicht. Wobei ich nach einer Nacht 10-12h schlafen auch gleich wieder ein Krönchen auf dem Tag bekomme, ähnlich eines „Primas“ in der Grundschule, nur dass es für 10 Primas kein Geschenk gibt.
Hey Chef, möchtest du mein variables Gehalt nicht mal an die Verbesserung meiner Gesundheits-KPIs in meiner Oura-App knüpfen? Wär doch mal was. So kannst mich ewig wie den fleißigen Ziel-Fischer in Heinrich Bölls Anekdote einsetzen und ich könnte wenigstens (ggf.) noch was abfischen von den energieraubenden Jahren der Rushhour meines Lebens, und sterbe nicht mit 60 Herzinfarkt.
Nach der langen Longevity-Speech von Verena und Lea fühle ich mich (trotz wandernd) wie ein Gesundheitsanfänger:
- Genug schlafen
- Sport - davon 3x Krafttraining
- Gesunde Ernährung & kein Alkohol
- Supplements futtern
- Eisbaden und Sauna (jeden Tag genau 19min in der Sauna sitzen und dabei Nachrichten auf dem Tablet gucken, ist next level)
- 5min Öl gurgeln
- 30min Matcha-Ritual mit eingerührtem Collagen
- Mit zugeklebtem Mund schlafen

Und dann kommt Kati Ernst, während ich über die nächste kleine Scharte krabbel und erzählt, sie sei auch total schlecht gewesen, denn es gäbe Phasen im Leben „da braucht dich das Leben“, „da habe eben die eigene körperliche Verfassung eine untergeordnete Rolle“. Sie habe dann angefangen sich jeden Tag 10min zu bewegen und einfach anerkannt wie unfit sie war…. höre ich und schnaufe über die nächsten Höhenmeter. Mein Muskelkater beißt. Ich erkenne auch grad einfach an, wie unfit ich bin. Hiermit dokumentiert. Lea unterstreicht die Haltung, sie sei eben „an athlete in waiting“, nächstes Jahr würde alles besser.
Ja, den Satz kenne ich. Ich bin definitiv auch ein total verstecktes Sport-Supertalent, das Leben hat mich nur gebraucht, und so muss dieser ultra athletische Modelkörper nur freigelegt werden, dann, wenn das Leben mich nicht mehr so braucht. Wartet ab!

Und als hätte mein Telefon gehört, dass das Leben mich halt gerade braucht, kommt eine Powerpointfolie bei mir an, die mein Oura-Ring sicher gleich als Symptom-Melder „kurz vor Herzinfarkt“ tituliert. Das Netz reicht nicht zum telefonieren und so merke ich zum ersten Mal, wie schnell ich wirklich gehen könnte. Ich „renne“ das Roßkarschartl hinauf, die rutschigen Serpentinen, greife das Seil mit den Knubbeln, gehe an der glatten Wand hinauf, greife das nächste Textilseil und ziehe mich Stück für Stück am Felsen hoch. Oben angekommen: der erkämpfte eine Strich Netz, um meinem Kollegen Antworten zu geben. Wir telefonieren kurz, bevor ich mich weiter auf dem Weg nach unten mache. Ich bin genervt, ärgere mich über die Folie …. und rutsche aus. Ein paar blaue Flecken später weiß ich, die Besprechung läuft und ich kann nichts mehr dafür tun, dass hoffentlich das Richtige entschieden wird.



Ich beschließe mir noch ein Stündchen meinen Lieblingspodcast reinzuziehen, doch meine Gedanken sind heute ein totales Gulasch aus Heinrich Bölls Fischer, Longevity, mein fehlendes Einnehmen von Supplements und einem Kollegen, der jene Folie malte.

Ich komme an der Steinseehütte an, auf die ich mich wahnsinnig gefreut hatte, aufgrund des „nahen“ Sees. Ich wollte baden, doch als ich sehe, dass ich dafür noch 150hm aufsteigen muss, denke ich mir „nein, nächstes Jahr, heute braucht mich das Leben einfach, hier auf der Terrasse bei einem Spezi, ohne Netz, nur mit mir und meinem Buch“.

Und so sitze ich in der Sonne und überlege, wie zur Hölle man an einem Arbeitstag das HIIT-Training, all die Supplements, die Sauna nach Sauna-Plan, die Eistonne, natürlich auch die Lymphdrainage in diesem Sofa-Lymphdrainagenanzug, Yoga, Dehnen, die gesunde Küche, all den Matcha-Latte und die 10-11h Schlaf mit Seidenschlafmaske, Oropax und zugeklebtem Mund unterbringen soll. Nebenbei arbeitet man natürlich Vollzeit, hat Kinder, schreibt Bücher, hält Vorträge, investiert in Start-Ups, ist mit dem Bundeskanzler per du und total energiegeladen und happy. WIE?
Be more Verena - wäre ein gutes Ziel. Hey - nächstes Jahr wird alles besser. Der Athlet in mir muss freigelegt werden.