Das Frühstück ist liebevoll angerichtet für die Altersklasse 70+. Ich nehme je die letzte der abgezählten Wurst- und Käsescheiben aus dem Plastikkasten auf dem Häkeldeckchen. Der Filterkaffee schmeckt schlechter als aus den Automaten in der Produktion. Der Hunger treibts rein, aber der liebevolle Service gleicht es aus.
Ich starte auf der Hauptstraße in Ruhpolding. Der Weg führt mich zunächst an der Hauptstraße entlang. Sie zieht sich langsam den Berg hinauf.
Mein Geist ist frei und leicht. Ich denke über Dinge nach, die ich anders oder neu angehen möchte. Und zu jedem neuen Ziel gehört auch das Loslassen etwas alten. Mein Chef meinte neulich, wir müssen im Job mehr „Trauern“, (Projekt-)enden einen Raum geben, Dinge bewusster abschließen. Noch nie habe ich über einen Impuls eines Chefs so oft nachgedacht. Wie recht er doch hat. Wie gut können wir Dinge starten? Ich zum Beispiel kann hervorragend Halbmarathonpläne starten, vor allem die ersten 2-3 Wochen kann ich super. Wie gut können wir Menschen kennenlernen? Wie gut können wir uns an Silvester gute Vorsätze machen? Doch wie schlecht sind wir darin Dinge bewusst zu beenden? Wie wäre es zum Beispiel, wenn ich mir eingestehen würde, dass ich joggen weder kann noch mag und es von nun an einfach lasse? Wie schlecht können wir einste Freundschaften/ Beziehungen, die sich einfach in verschiedene Richtungen entwickelt haben, im Guten beenden, statt sie ausschleichen zu lassen? Wie selten fragen wir uns an Silvester: was möchte ich im nächsten Jahr tun und was möchte ich dafür sein lassen? Wir müssen mehr sein lassen, mehr aufhören, bevor wir Neues starten und wir sollten, danke Thomas (!), Dinge und Phasen bewusster verarbeiten.
Ich laufe an einem kleinen Weiler vorbei, setze mich in die Wiese und schaue über Ruhpolding, während der Mähdrescher seine Kreise zieht. Ich genieße die warme Sonne und meine Zeit für Gedanken, die kommen und gehen. Nach einiger Zeit stelle ich fest, dass ich heute noch einiges vor mir habe und folge dem Waldpfad weiter den Berg hinauf.
Meine Gedanken sind ganz bei meinem persönlichen Jahresreview. Was nehme ich mur vor und was lasse ich sein? Ich gehe gedanklich die Kategorien des „Rads des Lebens“ durch, eine Coachingmethode. Einige Themen hat mein Hirn mir in den letzten Tagen eh schon präsentiert. Ich nehme mir ein paar Dinge vor, sortiere auch gedanklich mit wem ich in Zukunft mehr/weniger Zeit verbringen möchte, und ich finde auch einige Dinge, die ich weniger machen möchte. Auch beruflich hab ich ein paar Ideen mehr den Fokus auf meine Führen zu legen, statt mich mit bürokratischem Kleinkram zu beschäftigen (mal sehen, ob es klappt). Auch hier möchte ich mit einigen Dingen aufhören („trauern“/ bewusst beenden). Ich notiere meine Gedanken sorgfältig und freie mich über den für mich so wertvollen Tag.
Mein gedankenverlorener Aufstieg wird jäh unterbrochen als sich meine Airpods melden, sie seien nicht mehr bei mir. Sie scheinen bei der letzten Pause hinausgefallen zu sein. Entnervt nutze ich die „wo ist?“ Funktion meines Iphones und laufe den Weg zurück bzw. hinab. Ca. 45min wird mich das Einsammeln in Summe kosten. Ich finde sie dank genauer Ortung schnell und steige wieder zurück auf.
Der Weg zieht sich lange, ich begegne niemandem. Während eines intensiven Aufstiegs ruft ein Freund an. Wir lachen, unterhalten uns gut, sinnieren über dieses und jenes, während ich ihn sicherlich vollschnaufe. Das Netz bricht unterdessen unentwegt ab und wir werden geübt in gegenseitigen Rückrufen. Endlich erreiche ich - am Stimmungshöhepunkt - auch den höchsten Punkt des Aufstiegs und folge einem langen schmalen Pfad am Bergrücken entlang.
Die Sonne brennt. Eine sengende Sommerhitze untermalt einen perfekten Urlaubstag. Weiter gehts über schmale Serpentinen durch den Wald - ca. 10. Rückruf. Anschließend lande ich auf einer Forststraße. Genervt von der permanenten Netzunterbrechung der letzten Stunde bleibe ich auf dem Weg sitzen, lege das Handy in die optimale Position und verschnaufe bei einer kleinen Pause. Ich laufe weiter auf der Forststraße hinab. Ein paar Kühe stehen in einer Talsenke. Von dort aus geht es wieder hoch. Aufstieg und Gespräch werden anstrengender, aber genauso wertvoll und wichtig. Auch hier gilt es heute das Gesprächsthema abzuschließen, sich zu verabschieden und weiterzuwandern. Spät ist es geworden und ich bin kräftemäßig an meiner Grenze.In meinem Hirn schreit es nur noch:
Spezi - Dusche - Spezi - Dusche - Spezi - Dusche.
Und als hätte die Welt es erhört, taucht wie aus dem nichts eine Fata Morgana namens Bischofsfelln Alm auf. Es ist nach 17uhr, und es handelt sich nur um eine Zwischenpause. Spezi haben sie nicht, aber Kuchen und Schorle schmecken herrlich. Leider muss ich schnell weiter, denn das Endziel liegt noch zwei Stunden entfernt.
Ich steige wieder auf und als wüssten alle, dass ich heute Nachmittag für den Schlussspurt ein wenig Ablenkung brauche, meldet sich wieder jemand telefonisch. Das Gespräch ist unterhaltsam, auch wenn ich heute kaum noch Kraft habe. Ich höre zu, denn es erweitert definitiv meinen Horizont.
Ich durchschreite „am Tor“ auf ca. 1500m und steige von dort an wieder ab. Auch dieser Anrufer und ich verabschieden uns irgendwann und ich laufe müde und erschöpft weiter. Als ich umknicke, falle und ein Baum mich auffängt, weiß ich: ich habe keine Kraft mehr. Ich muss mich mit letzten Kräften nach diesen 10h ins Ziel schleppen. Eine Forststraße führt erst hinab, die Hütte ist schon in weiter Ferne zu sehen, dann wieder hinauf. Das Klocken meiner Stöcke hallt irgendwo in der Ferne….
Spezi - Dusche - Spezi - Dusche schreit es immer lauter in meinem Kopf.
Und dann bin ich endlich da: am Hochgernhaus. Die Aussicht ist gigantisch und kaum zu übertreffen. Man sieht weit bis nach Österreich hinein. Die schneereichen Gipfel am Horizont. Eine Art lebende Vogelscheuche, aber supernett, mit einem Hemd, das bestimmt nur 1x im Jahr gewaschen wird und weit aufgeknöpft ist, empfängt mich. Er nuschelt, vielleicht hat er auch keine Zähne, man weiß es nicht. „Nela?“ fragt er. Ja, sage ich. Den Rest verstehe ich nicht. „Spezi?“ frage ich mit letzter Kraft und er bringt mir ein großes Glas. Die letzten Sonnenstrahlen auf der Terrasse reichen für einen einzigen Tisch.
Obwohl alle anderen frei sind, setze ich mich dem älteren Herren am sonnigen Tisch. Schnell kommen wir ins Gespräch. Er ist selbstständig und vertreibt und installiert Photovoltaikanlagen. Stolz zeigt er mir das Energie-Dashboard seines Hauses. Er besäße eine Wallbox, „um zu wissen, was er vertreibt“, allerdings habe er kein Elektroauto. So sprechen wir noch ein wenig, während die Speziquelle durch die fleißige, liebevolle Vogelscheuche nie zu versiegen scheint.
Auch mein 2. Grundbedürfnis der Dusche wird befriedigt, wobei sich die Dusche auf der Herrentoilette befindet, die ungefähr so gut riecht wie eine Bahnhofsunterführung. Dennoch freue ich mich über zeitlich unlimitiertes warmes Wasser.
Wieder erreichen mich zwei Anrufe. Ich ratsche kurz, bevor ich unter einigen Decken tief und fest einschlafe. Ich werde erst 11 Stunden später wieder aufwachen.