images
Fernwandern

Tag 5: Memminger Hütte - Württemberger Haus

5:00 und es knistert und kruschelt in meinem Matratzenlager. Die 70 Mann werden wach. Grummelnd drehe ich mich um und versuche noch 1.5h zu schlafen. 

Die Ameisenstraße setzt sich zügig in Bewegung. Wir alle müssen in dieselbe Richtung hinauf zur Seescharte. Kühl und rutschig ist es wieder. Die bis oben hin begrünten Berge der westlichen Lechtaler Alpen wurden inzwischen abgelöst durch das schroffe, bröselige Gelände der östlichen Lechtaler Alpen und erinnern mich ein wenig an den Inntaler Höhenweg, an dem man sich ab und zu nach der malerisch grünen Idylle einer Milka-Werbung sehnt. Wie fast immer hier, geht es in Serpentinen im Geröll nach oben, bis eine Seilversicherung über eine Scharte führt. Copy Paste - jeder Tag, Lechtaler Alpen. 

Auf der anderen Seite der Scharte wartet die warme Morgensonne und ein grandioser Ausblick gen Süden auf uns. Ich setze mich neben einen jungen norddeutschen Wander mit Namibia-Safarihut, der schon auf der Memminger Hütte ganz nervös war Mutti nicht die tägliche „ich lebe noch“-Sms schicken zu können. Nach 24h ohne Netz quillt das Smartphone über von Nachrichten, Mails, Kleinanzeigen-To Dos usw. Wir machen beide hier an diesem schönen Fleck in der Sonne eine administrative Pause. Dabei richtet er mir mein Satelliten-Standort-Feature ein, sodass ich meinen Standort auf dieser Wanderung jederzeit teile. Durch das geröllige, herausfordernde Gelände fühle ich mich wohler etwas „verfolgt“ zu werden, während ich es in meinem Alltag für unvorstellbar hielte. 

Weiter gehts mit einer langen Querung - natürlich über Geröll, bevor die nächste Kletterei auf mich wartet. Wieder muss ich sehr konzentriert sein. Meine Erinnerung ans letzte Jahr macht mich extrem vorsichtig. Irgendwann werde ich überholt von Matthias aus München. Ich bitte ihn mich bis zum Gipfel zu begleiten. Für mich ein Aha-Moment: nicht nur, dass ich mein Sturzbild auf meinem Blog gepostet habe, sondern ich bitte um Unterstützung. Eine völlig neue Lernzone in einer gelernten Muster-Welt, die ansonsten ein „reiß dich zam“, „so schwer ists jetzt auch nicht“ und „bloß keine Schwäche zeigen“ in mir hervorrufen würde. Aber nein, ich hab einfach Matthias gefragt, ob er ein paar Meter mit mir zusammen läuft. Und während mein Inneres diese Kleinigkeit feiert, kraxle ich ihm nach, über Felsen, an Seilen entlang, über Grate, Steigbügel. Es rutscht, es wackelt, mir ist mulmig, während ein „hab dich nicht so“ in mir hallt. Und irgendwann sind wir auf der Großbergspitze angelangt. Ein Stock ersetzt das Gipfelkreuz und ein Smiley lacht in rot-weißer Farbe vom Felsen. Matthias Kumpel Bernhard kommt nach einigen Minuten auch an und zu dritt ziehen wir wieder los. Die Wackelpartie geht weiter, die beiden eilen voraus. Ich rufe ihnen noch zu, sie sollen ein Helles bestellen, wenn ich in Sichtweite bin. Irgendwann sehe ich sie in weiter Ferne und kämpfe wieder mit der Rutscherei auf der nächsten Geröllscharte. Nach einigen Höhenmetern geht die Rutscherei wieder in eine lange Querung über, die Hütte immer im Blick. Wahrscheinlich ca. 45min nach den zwei Herren komme ich erschöpft und müde am Wüttemberger Haus an. Das Helle wartet schon auf mich. 

Die Hütte ist geschmackvoll renoviert worden und erst seit 3 Wochen offen. Lediglich die alte Stube haben sie erhalten und außenrum eine neue Hütte gebaut. 600 Heli-Flüge hat es wohl gebraucht, um Schutt abzutransportieren und Baumaterial (und den Bagger) hinaufzubringen. Die Kosten konnten durch die fleißige Mitarbeit von Sektionsmitgliedern auf ca 3.5 Mio Euro reduziert werden. Zwei dieser Helfer trinken ein weiteres Bier mit mir und zeigen mit Bilder von vor 4 Wochen. Die Stube war noch komplett unausgebaut, die Terrasse existierte nicht. Hut ab - das war wirklich eine Meisterleistung pünktlich fertig zu werden. 

Die zwei sind Pensionäre der Telekom. Früher Post-Beamte, irgendwann übernommen worden. „Man wollte uns loswerden“ - irgendwann habe es einen goldenen Handschlag bekommen. Der ältere Herr der beiden war der Chef des anderen gewesen, scheinbar im Vertrieb. Der damalige Mitarbeiter fragt mich, was ich arbeite und warum es mir so selten gelinge in die Berge loszuziehen. Es beginnt eine philosophische Stunde über neue Arbeitswelten, ständige Erreichbarkeit, Meetings mit „betreutem Arbeiten“, die Für und Wider von Remote-Arbeit und über Aufstieg vs. Zeit für sich. Er zitiert Heinrich Bölls „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ von 1963. „Was macht dich glücklicher, Geld oder Zeit“ stellt er in den Raum. Sein Kompagnon haben ein wenig mehr Karriere gemacht und auch früher aufgehört. Er selbst habe weniger, sei aber jederzeit glücklich gewesen, er habe jederzeit Wochenende gehabt, sich nie einspannen lassen. 

So lassen sie mich mit den philosophischen Gedanken zur Kritik an unserer Gesellschaft, die trotz 1963 aktueller den je ist, ins Bett gehen - nicht ohne mich zu beglückwünschen zu einer ersten wegweisenden richtigen Entscheidung, nämlich aus dem Konzern ausgebrochen zu sein. 

Mein Name ist Nela. Ich bin eine freiheitsliebende Entdeckerin, voller Neugierde Neues zu finden, zu sehen, zu versuchen.

Das könnte dir auch gefallen