Heute ist der letzte Wandertag. Ich fühle mich, als wäre ich auf der Zielgeraden beim Biathlon uneinholbar bereits Fahne schwenkend unterwegs. Dieser letzte Tag jeder Fernwanderung ist ein Hochgefühl der Zielerreichung, des Stolzes auf das Geleistete, der Erleichterung und der Freude auf die Erholung. Und irgendwie denke ich dennoch an meinen großen Traum: von Wien nach Nizza in vier Monaten zu laufen. Ich bin zwar körperlich müde, aber irgendwie auch eingeschwungen im täglichen Rhythmus aus packen, wandern, waschen, schreiben, schlafen. Meine Gedanken wiederholen sich langsam, aber heute, am letzten Tag, kommt eine Prise Innovation, Kreativität, Gründerideen hinzu. Es ist spannend diese Veränderung zu beobachten.
Eine Straße führt uns das ruhige Tal des Maso Pertener entlang. Immer wieder überholen uns Rennradgruppen, die wohl auch auf ihrer letzten Etappe Richtung Gardasee sind. Der Weg ändert sich und wir betreten einen etwas düsteren Mischwald. Nach drei Wochen wandern fühlt es sich an als wären wir im bayerischen Wald unterwegs. Langsam zieht sich der Pfad sanft die Höhenmeter nach oben. Irgendwann lichtet sich das Dunkel und wir erreichen das Rifugio San Pietro mit einem atemberaubenden Blick auf Arco, Riva del Garda und den Gardasee. Das Gefühl ist unbeschreiblich das Ziel der Tour so nah vor Augen zu haben. Wir trinken einen Hugo und essen Apfelstrudel. Zwei ältere Herren vom Nachbartisch erzählen uns stolz sie seien schon so lange unterwegs: eine Woche seit Meran und auch ihr Ziel sei Riva.
Wir steigen einen schmalen, rutschigen Pfand hinab. So sehr wir uns gerade noch gefreut haben, so sehr müssen wir uns jetzt nochmal konzentrieren. Nach einiger Zeit erreichen wir eine Straße und folgen ihr. Mein Rücken schmerzt und das gebrochene Gestell meines Rucksacks macht sich wieder bemerkbar. Ich stelle fest, dass die meisten Rucksäcke einfach nicht für den Körperbau von Frauen gemacht sind und frage mich, ob ich meinen reparieren oder mir einen neuen Rucksack gönnen sollte. Vielleicht werde ich meinem Ex-Freund aus Schulzeiten einen Besuch abstatten, der (zumindest damals) in der Ski- und Rucksackabteilung eines renommierten oberbayerischen Sportfachgeschäfts arbeitete…
Die flirrende Hitze des italienischen Sommers brennt auf unsere Haut hinab. Wir folgen schmalen gepflasterten Pfaden bis Tenno, einem kleinen Örtchen am Fuße des Berges. Einige Häuser stehen zum Verkauf und wir sinnieren über einen co-working space an diesem malerischen Ort. Ein letztes Mal führt der Weg durch den Wald und spendet uns Schatten. Irgendwann kommen wir auf den Straßen der Ausläufer von Riva del Garda an. Gedanklich schon bei den Folgetagen, nutzen wir eine kurze Pause, um im Wellnesshotel Massagen zu reservieren. In der Innenstadt kaufe ich mir eine günstige Ersatzsonnenbrille für die nächsten Tage… Wir schlendern durch die Gässchen, nehmen eine Vielzahl an bunten Geschäften wahr. Unsere letzten Meter der Wanderung liegen vor uns. Schritt vor Schritt nähern wir uns der Piazza III Novembre. Dort angelangt, stehen wir direkt an der Anlegestelle der Boote: wir haben unser Ziel erreicht. Überglücklich und dennoch mit einem seltsamen Gefühl, machen wir ein gemeinsames Bild. Ich bin genauso froh wie traurig, dass diese Fernwanderung heute ihren Abschluss findet. Ein Resümee werde ich in Ruhe in den nächsten Tagen ziehen.
Und als wüsste der Himmel, dass wir gut angekommen sind, öffnet er seine Schleusen und lässt den Regen auf Riva del Garda trommeln, während irgendwo in weiter Ferne Stromae singt:
La-la-la-la-la-la
La-la-la-la-la-la
Alors on chante
Et puis seulement quand c'est fini
Alors on danse…