„Um Anzukommen, muss man gehen“ - Erkenntnis des Tages
Eiskalt war es heute Nacht im Lager. Immer wieder habe ich gehofft bald einzuschlafen, um das Frieren nicht zu spüren. Zerdatscht stehe ich auf um die letzten Minuten der Frühstückszeit zu nutzen.

Ich starte mit einem Gedankenstrudel im Kopf. Die ersten zwei Stunden, die ich heute aufsteige sind jene, die ich letztes Jahr verletzt abgestiegen bin. Und mit jedem Meter mehr, den ich dem Pfad folge, frage ich mich, wie ich dazu imstande war. Geröllig und rutschig ist es. Ein mahnendes Gedenktaferl scheint den erhobenen Zeigefinger zu zeigen: Obacht!

Mir geht der Tod von Laura Dahlmeier durch den Kopf, der in der letzten Woche die Zeitungen füllte. Seltsamerweise löste er in mir weniger Bestürzung aus, als einen hochachtungsvollen Kniefall vor dem unbändigen Lebenshunger und vor der unbändigen Abenteuerlust, die ihr Elixier zu sein schien. Und wenn man auf Instagram ihre Juni-Zusammenfassung ansieht, so erlebt man ein Feuerwerk an Dopamin - ausgelöst durch Wandern, Klettern, Radeln, Fallschirmspringen. Sie schien jede Sekunde ihres Lebens wirklich ERlebt zu haben. Sie schien ihre Träume in Realität umgesetzt zu haben und bedingungslos verfolgt zu haben. Viel mehr als Bestürzung, lösen die Nachrichten eine Sehnsucht nach Bergen, Bewegung, Erlebnissen und Abenteuern in mir aus. Laura Dahlmeier - so scheint es - hat in 31 Jahren mehr gelebt, als wir Büromenschen es getan haben werden, wenn wir mit 85 aus dem Altersheim auf unseren Alltag aus Mails, Meetings und Workshops zurückblicken.


Vielleicht, lieber Bergretter, machst du dir Sorgen, weil eine Prise mehr von diesem Bergleben nicht schaden könnte. Du, wo du Leben und Tod in deinem Bergretteralltag so nah beieinander siehst, stellst gerade deine Weichen auf mehr Leben. Schließlich ist es das Schlimmste lange zu leben ohne gelebt zu haben. So laufe ich in Gedanken weiter…

Langsam bin ich. Immer mehr Wanderer überholen mich. Ich merke, wie wenig fit ich bin. Irgendwann erreiche ich das Kälberlahnzugjoch. Ich mache ein wenig Pause und erspähe meine damalige Sturzstelle. Ich kann wirklich von Glück reden, dass mein Gesicht das Rollen gebremst hat. Kurz dahinter ist ein riesiger Anhang zu erblicken.

Ein Mann, der wie eine Karikatur seiner selbst zu sein scheint, spricht mich an - Nennen wir ihn Jürgen. Jürgen ist schmal mit hochgezogenen Schultern, fletscht die Zähne und erzählt mir „jaaaaaa ich bin ja auch übrigens Mitglied im DAV“. Schön für dich, denke ich mir, das ist hier wohl jeder, der unterwegs ist, aber noch nie hab ich jemanden getroffen, der sich so vorstellt. Ob der Weg zur Wetterspitze denn schwierig sei, fragt er mich. Als ich ihm antwortete, dass ich das nicht wüsste, beginnt Jürgen sich selbst gut zuzureden, das das alles bestimmt sehr gut machbar ist. Er würde schließlich schon so lange in Holzgau wohnen (spricht wahnsinnig Norddeutsch). Ja Jürgen, nachdem zu einen Wohnsitz in der Nähe hast, kannst du das per Definition sicher besser laufen als jeder andere. Viel Spaß!

Mit einem etwas mulmigen Gefühl entschließe ich mich zur Ansbacher Hütte zu laufen, anstatt der damaligen Route zum Kaiserjochhaus zu folgen. Ich halte die Höhe und mache kleine vorsichtige Schritte bis ich am Stierlahnzugjoch ankomme. Wieder pausiere ich kurz, bevor ich mich an der Seilsicherung hinabhangle. Ob ich denn eine Granitarbeitsplatte habe - fragte mich letzte Woche der Juwelier meines Verlobungsrings. Er sei so hergewerkelt - das müsse durch das Kochen auf dieser Granitplatte kommen, war er sich sicher. Ich war ziemlich irritiert über sein Frauenbild, mein Inneres kochte. Ich sah mich als Hausmütterchen am Herd stehen, den Herren des Hauses bedienend. DAS hier ist meine Granitplatte, lieber Juwelier, die Wand hinter der Seilsicherung. Ja und das tut der Fassung vielleicht nicht ganz so gut, aber besser vom Seil oder Klettersteig als vom Kochen oder?

Schmunzelnd, nicht wissend, ob ich lachen oder mich ärgern soll, folge ich dem Serpentinenpfad. Ein drahtiger, hübscher Allgäuer Ende 40 kommt mir entgegen und fragt mich, wo ich denn hingehe. Er sei mit dem Radl ins Tal gefahren und laufe jetzt auf den Fallbacher Turm, um abends wieder ins Tal abzusteigen. Schade, denke ich mir - jetzt würde ich auch gerne zu diesem Fallbacher Turm laufen. Wir verabschieden und und jeder geht seines Weges.
Eine lange Geröllquerung wartet auf mich. Nach 1/3 des Weges setze ich mich mal wieder hin, mein Kopf sinkt auf meine Knie. Ich bin soo unendlich müde. Meine Augen fallen zu. Doch wie mahnend sagt das wache Ich zum müden: Hey, um anzukommen, musst du halt auch gehen!
Welch geistreiche Erkenntnis.
Ich setze die Querung fort bis es zu einem laut Wanderführer nicht nennenswerten Gegenanstieg kommt. Zwei verlorene Franzosen in Turnschuhen fragen mich, wo es denn hier ins Tal ginge. Ich deute auf das Tal, in der der attraktive Allgäuer mit seinem Radl gefahren ist und mahne, dass das ein sehr langer Abstieg sei und schicke sie in Richtung Hütte.

Der Anstieg endet am Flarschjoch - wieder pausiere ich und schaue müde in die Alpenvereinsapp. Raff dich auf! ruft eine Stimme in mir und ich beeile mich die letzten 20min zur Hütte zu kommen. Dort angekommen, freue ich mich über Dusche, Speis und Trank, bevor ich um 19:30Uhr ins Bett sinke, um 12h zu schlafen. Ich bekomme nicht mit, dass neun weitere Personen das Lager betreten und verlassen. Als ich einschlafe und als ich aufwache bin ich alleine. Ich scheine einen Koma-Schlaf gehabt zu haben…