Wir liegen in unserem Lager am Fenster. Es gewittert als würde es kein Morgen geben. Die Todesangst im Ultental scheint ein Witz gegenüber dem Unwetter zu sein, das uns heimsucht. Noch nie in unserem Leben haben wir derartige Kräfte gesehen, gehört, gefühlt. Der Hagel prasselt auf unser Dach, als würde eine Horde Elefanten in einem Elektroschuppen tanzen. Die Blitze sind so hochfrequent, so hell, als seien hunderte Paparazzi vor diesem winzigen Fensterchen, als ginge es beim Blitzwettbewerb um ihr Überleben. Der Donner grollt so laut, als würden wir aus der Erde heraus an der Straßenoberfläche horchen, während ein Presslufthammer seine Arbeit verrichtet. Es knallt, blitzt, grollt aus allen Richtungen, wie wenn die Berggipfel sich gegenseitig bekämpfen würden. Das Gruseligste an allem sind die Momente der Stille. Immer wieder hält der Himmel den Atem an, für zwei, drei, vier Sekunden, um sich neu zu munitionieren und seine Schlachtstrategie zurechtzulegen, bevor die Elefanten wieder ausgelassen zu den Beats des Hagels tanzen, die Paparazzi fotografien und Zeus zornig ist. Es vergehen Stunden bis sich der Himmel endlich beruhigt und friedliche Stille einkehrt.
Das Gewitter war übrigens nicht vorhergesagt, was uns weiterhin beunruhigen wird.
Müde von der wilden Partynacht des Wetters frühstücken wir drinnen mit dem dritten Gast: Francesco aus dem Büro des Campingplatzes Zoo Arco, der bei einem Frühschichttag und einem darauffolgenden Spätschichttag hierher in die Berge flieht, um alleine zu sein. Er breitet seine Karte aus und empfiehlt uns Routen. Nach der heutigen Nacht und unserer Ultentaler Gewittererfahrung möchten wir nur bei wolkenlosem Himmel über den Grat laufen. Lange diskutieren wir mit Francesco und dem Wirt und beschließen zur Malga Flavona aufzusteigen, um dort erneut zu entscheiden und ggf. zu nächtigen. Es scheint in dieser Alm nichts zu essen zu geben, daher packt uns Ivan, der Wirt, zwei großzügig belegte Semmeln und Äpfel ein.
Ein Pfad schlängelt sich zunächst über Wiesen, dann durch den Wald, schließlich über einen Bach. Es ist dampfig heiß. Heute ist nichts von meiner gestrigen Konfettistimmung übrig. Wie wenn sich die tanzenden Elefanten die bunte Welt eingeschmissenen hätten, um noch besser zu feiern. Mein Gehirn beschäftigt sich dagegen wieder mit dem zitierten alter Gedanken aus Etappe 6. Es sortiert sich die Erkenntniswelt zu Schaubildern, die vor meinem inneren Auge erscheinen, als hätte mein Powerpoint-affinster Mitarbeiter sie für den Vorstand gepinselt. Ich erinnere mich an einen Kollegen, ich nenne in Anton (Name von der Redaktion geändert). Er meinte vor ca. 7 Jahren, jede Freundin hat ihn zu einer neuer Version seiner selbst gemacht. Er sei jetzt Anton 4.0. Damals erwiderte ich lachend, dass jeder bekannte Ausrutscher eine Nachkommastelle wert sei, was zu Anton 4.2 führte. So war er lange in meinem Handy eingespeichert, bis ich ihm in diesem Jahr einen Nachnamen spendierte, da die Nummerierung weit hinter der Realität hinterherhinkte. Und so denke ich darüber nach, dass auch jede Fernwanderung eine neue Version von mir selbst hervorbrachte, eine sortiertere, reicher an Kraft und Erfahrungen, mit einer Liste an Änderungen und Ideen als Agenda bis zur nächsten Wanderung. Nela 5.0 steht also an. Und der Notizzettel im Handy mit Aktivitäten und persönlichen KVP-Maßnahmen* fürs kommende Jahr ist proppenvoll. Es tut mir gut zumindest einmal im Jahr so umfangreich zu reflektieren und mich neu zu justieren.
Beschäftigt mit den Gedankenzitaten der Vorwoche stapfe ich weiter. Der Weg stößt auf einen schattigen Fahrweg und ein lachender, ausgemergelter Francesco begegnet uns. Wir unterhalten uns kurz, er rät zum Beobachten der Wolken und wir folgen dem Fahrweg bis zur Malga Flavona. Eine große Gruppe Pfadfinder macht sich am Campingkocher essen. Ich wundere mich über so viel Plastiktüten und Müll bei vermeintlich grünen Pfadfindern. Aber vielleicht gibts dort doch keinen Zusammenhang. Die Almbesitzerin teilt uns mit, dass das Lager durch die Pfadfinder leider voll sei, aber auf den Bierbänken (20cm Breite) noch Platz wäre. Einen Ofen gäbe es auch, Decken und Kissen nicht. Wir essen Ivans Semmeln, die von Gewicht und Konsistenz auch fürs Kugelstoßen geeignet wären, und beobachten den Himmel über dem zu passierenden Pass. Die Wolken türmen sich zu dunklen Formationen. Wir bleiben und stellen uns auf eine kalte Nacht auf Bierbänken ein. Ca. 1h später beginnt der Wind die Wolken langsam zu den westlichen Brentagipfeln zu schrieben. Ein Loch blauer Himmel tut sich auf und wir starten einen Passüberschreitungsversuch. Ein Pfad führt uns auf eine Hochebene. Ein weites, grünes Tal macht sich auf zwischen den schroffen, grauen Felswänden der Brenta. Wir wandern hindurch und steigen Ende der Hochebene ein paar Höhenmeter auf. Just als wir am höchsten Punkt, dem Passo della Gaiarda, ankommen, vibriert meine Fitbit freudig, ich hätte das Tagesschrittziel erreicht, das Fitbit standardmäßig festgelegt hat. Eine unbeschreibliche Aussicht eröffnet sich uns. Die steilen Felswände der Brentagipfel ragen aus einem schmalen Tal empor. Wir steigen in eben dieses Tal ab. Ein schmaler Pfad führt uns durch Latschenkiefern hinab. Irgendwann erblicken wir die Malga Spora, unser heutiges Alternativziel, das Francesco empfohlen hat. Die Dusche (5€!) ist so heiß, dass sie auf der Haut brennt und ich den Unterschied zwischen heiß und kalt kaum noch wahrnehmen kann. Frisch geduscht genießen wir die letzten Sonnenstrahlen und lassen den Abend bei schlechtem Tütenwein und lieblos reingeknallten Nudeln, die an das Ikea-Kinderessen erinnern, am Ofen der Stube ausklingen. Komplett gekleidet schlafen wir im eiskalten Matratzenlager müde ein.
*kontinuierlicher Verbesserungsprozess