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Garmisch-Gardasee

Tag 13: Martelltal - Ultental

Es hatte nicht mehr gewittert, weder tagsüber noch nachts. Müde und etwas unmotiviert frühstücken wir. Ein langer, unglaublich anstrengender Tag wartet auf uns. 1700 Höhenmeter hoch und etwa so viele hinunter sind bis St. Gertraud im Ultental zu bezwingen. Der Weg scheint, laut Pensionsbesitzer in Schlanders, wenig bekannt zu sein. Er führt über das Flimjoch zwischen Tuferspitz und Kleines Hasenohr ins Ultental. Drei Almen liegen auf dem Weg.

Es ist strahlend blau, keine Wolke am Himmel, die Wettervorhersage wird stündlich besser und besser. Und sie ist deutlich besser als gestern, wo es nicht mehr gewittert hatte. Dennoch beschleicht uns ein mulmiges Gefühl. Wir beschließen bis zur zweiten Alm aufzusteigen (ca. 1000 Höhenmeter), um dort noch einmal die Lage zu sondieren und den Besitzer nach dessen Einschätzung des Wetters zu fragen. Bisher scheint es ein traumhafter Tag zu werden.

Unermüdlich zieht sich der Waldweg Höhenmeter um Höhenmeter nach oben. Es ist unglaublich steil. Ich muss weit nach oben Richtung Himmel blicken, um den Max vor mir zu sehen. Zwischenzeitlich frage ich mich, ob es heute an diesem Badetag nicht schöner wäre, auf einer Luftmatratze am Lido di Jesolo den ganzen Tag im körperwarmen Wasser zu schwappen. Ich steige weiter auf, langsam in meinem Takt. Irgendwann nach ca. 2h erreichen wir die erste Alm, ein unbewirtschaftetes Hüttchen in Gartenhausgröße. Kurzzeitig flacher, folgen wieder steile Kehren. Es wird heller und die Waldgrenze ist bald erreicht. Gerade als ich laut fluche, sitzt ein paar Meter weiter grinsend jener Almbesitzer der oberen Flimalm mit seinem Hund und scheint den einzigen Fleck  mit Handyempfang weit und breit zu nutzen. Immer noch strahlt die Sonne als sei es der schönste Badetag, doch wir trauen der Idylle nicht. Wir fragen den Almbewohner um Rat. Er blickt täglich zur Scharte hinauf und kann das Wetter sicher gut einschätzen. „Ihr schafft das schon“ meint er und schickt uns los.

Wir folgen dem kleinen Talboden noch durch die Wiesen und den Matsch. Anschließend geht es auf einem Geröllhang hinauf. Der Hügel, der vor uns liegt, sieht so groß aus wie der Olympiaberg in München. Dennoch warten noch 2h Aufstieg auf uns. Am Ende kämpfe ich, gegen müde Beine, die weich werden, gegen meine Schwere in der Lunge, gegen mich selbst. Aber ich halte die Zeit ein und erreiche sichtlich erschöpft das Flimjoch. Dort oben sehe ich in das panische Gesicht vom Max. Auf der anderen Seite sieht man eine dunkle Gewitterwolke über die Hangkante kippen. Es kommt mir vor, wie wenn bei Harry Potter das dunkle Mal am Himmel erscheint und alle in Todesangst erstarren. Wir haben den Sonnenstrahlen der anderen Seite, der Wetterapp und der Aussage des Einheimischen getraut und uns doch verschätzt. Gestern noch hatte ich über immer passendes Reagieren geschrieben - gescheitert. Nun sind wir auf 3000m auf einem Grat, mitten im Geröll, ziemlich platt vom Aufstieg und jede Sekunde zählt. Wir entscheiden uns für die Ultentaler Geröllseite, da die Hintere Flatschbergalm näher als die obere Flimalm ist. Wir beginnen zu rennen. Die Steinplatten und Geröllhänge hinab in die Senke hinein. Noch ist das Gewitter nicht über uns. Wir haben Netz und ich gebe einem Freund kurz unsere Lage durch, schicke meinen Livestandort und laufe weiter. Max ist deutlich schneller als ich. Es peitscht der Wind und es beginnt zu regnen. Ich habe keine Zeit mich adäquat einzupacken, stecke aber schnell meine Sonnenbrille ein, die ich leider genau dadurch verlieren werde. Sie hatte wohl in Vent ihren letzten großen Auftritt. Es donnert. Ich renne. Ein großer Felsen in der Mitte des Kessels ist mein Ziel. Wir kauern uns hinter den Felsen, die Stöcke lassen wir einige Meter entfernt liegen. Ich ziehe schnell Regenjacke und -hose über. 1/2m vom Felsen weg, möglichst wenig Bodenkontakt, möglichst isolierend, möglichst wenig Höhe, heißt es immer. Angst und Fokus regieren die Situation. Wir haben Empfang und schauen auf das Wetterradar. Es blitzt, wir zählen, es donnert. Das Gewitter ist über uns. Das Netz wird schlechter. Ich sende eine letzte Nachricht ab. Es blitzt. Ca. 45min verweilen wir in der Situation, die wir immer vermieden haben und nie erleben wollten. Die Alm ist in Sichtweite, ca. 30min entfernt, doch wir riskieren nichts. Endlich reißt der Himmel ein Loch und es wird heller. Das Wetterradar zeigt ein 30min-Fenster. Wieder laufen wir. Ich merke den Rucksack gar nicht mehr. Es ist erstaunlich, wie viele Kraftreserven in einem völlig kaputten Körper stecken. Nach ca. einer halben Stunde erreichen wir mental völlig bedient die obere Flatschbergalm. Das Wetter bleibt stabil sonnig, entgegen der App kommt kein Gewitter mehr, und wir setzen uns erschöpft auf die Terrasse. Ganz unten auf der Maslowschen Bedürfispyramide sind wir immer noch im Überlebens- und weit weg vom Genussmodus. So beeindruckt uns der optisch grandiose Kaiserschmarren des Nachbartisches wenig. Ich trinke eine heiße Milch mit Honig und versuche ein paar Bissen eines Mohnkuchens herunterzubringen.

Koa Hiatamadl mog i net

Hot koane dick'n Wadln net

I mog a Madl aus da Stadt

Wos dicke Wadln hat

...klingt es aus der Stube nach draußen. Ich nehme es beiläufig wahr.

Wir wollen schnell ins Tal, trauen der Lage gar nicht mehr. Schnellen Schrittes beeilen wir uns Meter um Meter dem Fahrweg Richtung Ultental zu folgen. Wir sind deutlich schneller als angegeben. An einem Parkplatz geht der Fahrweg in schmale Waldserpentinen über. Ein Kruzifix steht am Wegesrand mit folgendem makaberen Schild:

Es passt zu dem Tag heute. Am Ende des Weges ist das Örtchen St. Gertraud. Über eine Brücke und durch einen Wiesenurwald kommen wir auf die andere Ortsseite. Ich habe irgendeine Pension gebucht, die nur noch zwei Betten auf dem Dachboden im Angebot hatten. Ich stelle mir eine in die Jahre gekommene, gruslige Pension vor, irgendwo über der Dorfspelunke. Doch es kommt ganz anders.

Es öffnet sich die Tür des Garni Elisabeth, einem von außen unauffälligen Gebäude. Eine villenähnliche Eingangshalle mit Kronleuchter, Gemälden an den Wänden, Deckengemälde mit Engelchen, einem Kamin und viel zu viel Deko erwartet uns. Irgendwas zwischen altbacken und modernisiert, zwischen Starnberger Chic und südtiroler Pension. Jede Stufe der Treppe und schließlich der Leiter auf den Dachboden schmerzt. Aus dem Martelltal sei noch nie jemand gekommen heißt es. Das wundert uns nicht.

Wir werden zum Abendessen erwartet, dem Wunder diesen Tages. Statt einer Spelunke bekommen wir ein sternewürdiges Menü der Extraklasse geboten. Die Weine schmecken unglaublich gut dazu. Würde wir eine vergleichbare Qualität in München finden, wär das sofort unsere Adresse Nr. 1. Das Ganze kostet uns übrigens 58€ inkl. Halbpension, besser als jedes Matratzenlager. Leider sind wir noch so aufgewühlt, dass wir, trotz des grandiosen kulinarischen Hochgenusses, nicht in Stimmung kommen. Gegen halb neun kippt unsere Müdigkeit und wir schlafen tief und fest ein…

Mein Name ist Nela. Ich bin eine freiheitsliebende Entdeckerin, voller Neugierde Neues zu finden, zu sehen, zu versuchen.

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