images

München - Utting am Ammersee

Spät ist es, als wir am Freitagnachmittag starten. Ein paar Mails, Freigaben und Unterschriften wollen noch erledigt werden, bis es endlich losgehen kann. Müde bin ich von den letzten neun Monaten in meinem neuen Job. Gefühlt habe ich gestern gestartet und die ersten Monate fühlten sich an wie eine Ballmaschine, ein bunter Mixer aus Post-its und lose herumfliegenden Puzzlestücken, bei denen lange nicht erkennbar war, zu welchem Puzzle sie überhaupt gehören. Die ersten sechs Monate entdeckte ich, wie Christoph Kolumbus, eine Insel nach der anderen. Eigentlich wollte ich nach Indien - doch permanent entdeckte ich neue Gebiete… Wo wollte ich hin und wo bin ich nun? Das ist eine andere Frage. Entdecken erfordert Aufmerksamkeit, Neugierde, Analyse, Bewertung und letztendlich auch Energie. Ostern merkte ich: ich brauche Urlaub, muss Kraft tanken. Meine Tage starteten damals mit ersten Telefonaten, denen ich mit Lautsprecher neben dem Zähneputzen lauschte (danke für die Toleranz an dieser Stelle) und endeten spät in der Nacht/ am Morgen… Zeitgleich hörte das Entdecken neuer Inseln auf, ich konnte Karten der Entdeckungen erstellen, sie kategorisieren, die Mannschaft neu aufstellen. Alles setze sich ein wenig und nun ist endlich Zeit durchzuschnaufen… 

Ausgestattet mit einem neuen Dienstradl, einem Gebrauchtrad meiner Firma und einem Anhänger für unseren Zwergpudel Emil ziehen wir los gen Westen, auf die vielbefahrene Landsberger Straße in München. Keine Straße ist so bunt und seltsam, wie die Landsberger Straße. Vorbei am Puff, vor dessen Haustür der BND mit „wir suchen Terroristen“ nach Arbeitskräften sucht, Richtung Laim, vorbei an meiner neuen Arbeitsstelle, unserem Vermieter, hässlichen Büros, einer Döner- und Pizzabude nach der anderen nach Pasing. Ein Autodantler nach dem anderen unterbietet mit Verkaufspreisen die greisligen Autos des anderen. Dazwischen kulinarische Ergüsse des Lieferandoklientels der umliegenden Werkstätten. In Aubing passieren wir ein gratliges, altes Bürogebäude. Ich erinnere mich daran, wie wir dort seinerzeit, als ich politisch aktiv war, unter „AK Attacke“ Themen für die Münchner Lokalpolitik planten, die uns viel zu langsam vorwärts gingen. „Wenn du nicht mehr weiter weißt, dann gründe einen Arbeitskreis“. Immerhin sind Mitglieder dieses Arbeitskreises in der Zwischenzeit im Landtag gesessen. Ich selbst hatte mich nach ein paar Jahren zurückgezogen. Wir rollen weiter Richtung Freihamer Gewerbegebiet, meine Lieblingsdestination, um ein paar Stunden im Hornbach zu verbringen, um Inspiration zu finden und Menschen bei großen Taten zu beobachten (erlebt man im Baumarkt ja öfter als sonst im Leben…). Weiter gehts Richtung Germering - ein paar Kevins und Chantals mit großen Kreolen, „Digga Altaaa“ und Kaugummi als Hauptnahrungsmittel müssen umrundet werden - an der Golfrange vorbei und auf den Radweg neben die Autobahn. 

Es ist mein erster Radurlaub. Jedes Jahr seit der Beendigung meiner Doktorarbeit wandere ich irgendwo über die Alpen, gerne alleine, immer dem dumpfen Klack-Klack meiner Stöcke folgend. Ich liebe die Langsamkeit, Entschleunigung und vor allem die Aufmerksamkeit für das Kleine: für die Lüftlmalerei, die Musik des Cafés, Flora und Fauna oder seltsame Entdeckungen aller Art. Mein Geist nimmt nun radelnd dennoch all die sonderbaren Entdeckungen wahr - bäm bäm bäm - ballern sie sich in mein Hirn, wollen verarbeitet werden, ploppen auf wie nervige Teamsnachrichten, während man sich auf sein Meeting konzentrieren möchte. Und so hängt mein Geist noch in den blauen Blumen des Freihamer Mittelstreifens und möchte ganz in Ruhe sinnieren, während die Geschwindigkeit noch 20 andere Beobachtungen in mein inneres Backlog legt. Und genau deswegen wandere ich so gerne, vielleicht nicht des Wanderns wegen, sondern aufgrund der Tatsache durch die Langsamkeit die Chance zu haben, jedem, wirklich jedem Eindruck den Raum zu geben ihn zu Ende zu denken. Eine Stunde ist nun vergangen und ich frage mich: wie soll ich beobachten, wie soll ich fotografieren, wie denken und dokumentieren. Doch wir rollen unermüdlich weiter. Die Laster der Autobahn tauchen ab und zu den Radweg in Schatten. Vorbei am Golfclub Wörthsee, an dem ich viel zu selten an meinem Handicap arbeite, treten wir in die Pedalen, um den Ammersee zu erreichen. Erste Häuser und Höfe tauchen auf, es riecht nach Kuh und Stall und ich ertappe mich dabei, wie ich die Autobahnen und Gewerbegebiete normaler bewertete als diesen irritierenden Landgeruch. 

In Stegen bleiben wir kurz stehen. Hier, wo sich bei den ersten Sonnenstrahlen lange Schlangen an der Eisdiele des Fischer am See bilden. Ich beobachte den Biergarten: in strahlendem Sonnenschein trotzt die Süd-Münchner Bourgeoise bei Champagner und Lugana den Krisen dieser Welt. Klima, Wirtschaft, Einwanderung, Kriege? Hier, am Ammersee - so scheint es - ist immer alles gleich. „Mia san mia“ - Krise, das ist jene Zeit, in der man gut investieren kann mit dem alten Geld der Familie, in der der Weinkeller immer gut gefüllt sein sollte und in der man aber wunderbar beobachten, kommentieren und alles besser wissen kann. Panem et circenses für die Plebs - „no oan Cà dei Frati für die Dame mit der Louis Vuitton Tasche bitte“. 

Wir folgen der Uferstraße. Alte Grundstücke reihen sich aufeinander. Ein paar heruntergekommene Häuser können mit imposanten Parkanlagen und Seezugängen trumpfen. Da hingegen sind die neuen architektonischen Perlen auf kleine Handtücher gebaut, wohlwissend, dass die Cà dei Frati- Dame dafür ein paar Milliönchen geblecht hat. Durch den Wald und über Schotterwege gehts zur „Alten Villa“, ein Restaurant dessen DNA wohl irgendwas zwischen Landsitz, Biergarten und Villa Kunterbunt zu sein scheint. Jahrzehntelang bin ich nicht hier gewesen und dennoch erkenne ich es sofort. Es hat einen sehr speziellen Charme… Schon bald erreichen wir Utting am Ammersee. Die Boote schaukeln ruhig vor der malerischen Bergkulisse. Fast blind finde ich den Weg zu meiner Freundin Magda und ihrer Familie. In der Garage steht der immer noch stark folierte Tesla, mit dem sie und ihr Mann seinerzeit, als man noch durch den Iran und Russland reisen konnte, sich mit dem E-Auto den Weg nach Kasachstan bahnten. Wie gerne würde ich auch ein paar Monate die meine Post-its meines Geistes zurücklassen und auf Tour gehen, zu Fuß oder zu Defender - ganz egal und die Welt erkunden. Magda und Benedikt sind für mich der Inbegriff für Freiheit und Selbstbestimmtheit, auch wenn die beiden es ggf. selbst ganz anders sehen… 

Wir lassen bei Grillfleisch, Bier und Apérol im warmen Mondschein den Abend ausklingen und freuen uns, ganz spontan, diese Route gewählt zu haben, statt wie geplant in Augsburg zu starten. 

Mein Name ist Nela. Ich bin eine freiheitsliebende Entdeckerin, voller Neugierde Neues zu finden, zu sehen, zu versuchen.