Reutte, wer kennt nicht Reutte? Hier wo man immer nur durchfährt, wenn mal wieder der Pfändertunnel gesperrt ist. Wo man im dichten Schneetreiben den Weg nach Hause sucht. Hier, wo man nie bleibt, sondern immer auf der Durchreise ist. Ich bin es auch. Auf der Durchreise von Laufen zum Humpeln, auf der Durchreise von Automobilindustrie zur Fahrradbranche, mit dem Heli gekommen, mit dem Zug gefahren.
Nun bleibe ich hier und schau mal bewusst hin, was Reutte so kann, außer hübschen Bergrettern und Notaufnahme. Auf den ersten Blick wirkt der Ort ein wenig gratlig. Dönerbuden und Kaffeeautomaten reihen sich lieblos aneinander. Einen richtigen Dorfkern gibt es nicht. Ich folge einer Empfehlung und humpel über eine Stunde zum Urisee. So ist es auch das Leben mit dem ÖPNV: hauptsächlich zu Fuß. Der Urisee ist ein kleiner Freizeitsee mit vielen Stegen und Plattformen. Eine Highline (Riesen-Slackline) läuft bestimmt 80-100m über den See. Am Kiosk gibt es Weinschorle. Keine 20min sitze ich alleine und Hamet und Amir, zwei gangsterähnliche „reinblütige“ (Eigenaussage) Perser bitten mich an ihren Tisch. „Und was hascht du gelernt“ fragt mich einer. Maschinenbau antworte ich. Er auch, meint Amir, Kfz-Mechaniker. Ob ich „in Früh- oder in Spätschischt arrrbeite“ fragt er. „Gleitzeit“ löst Erstaunen („krass gut“) aus. Kurz antworte ich, dass ich jetzt in einer Fahrradfirma anfange und das auch ein guter Job ist. „Bei mir um die Ecke“ - „ah des isch gut“…. Eine Zeit lang beobachten wir noch das Balancieren, Fallen und Wiederaufstehen der Slacklinerin, bevor ich mich mit einem Handschlag verabschiede und schwimmen gehe…
Am nächsten Tag starte ich mit dem Taxi zur Bergbahn Hahnenkammbahn. Schmunzelnd vergleiche ich Reutte und Kitzbühel mit ihren Hahnenkämmen. Beide Orte liegen in einem malerischen Tal, beide könnten nicht unterschiedener sein. So gratlig wie Reutte erscheint, so schnieke gibt sich Kitzbühel. Doch Reutte gibt sich Mühe, aus dem „Nichts“ etwas zu machen: die Highlights sind eine Burgruine, eine Hängebrücke, die Therme und die Bergbahn. Zwei Hightlights werde ich heute besuchen: die Bergbahn und die Therme.
Oben angekommen wackel ich mit den anderen unsportlichen Touristen von Gondel zur Holzterrasse. Das alkoholfreie Weißbier mit frischem Marillenkuchen schmeckt wunderbar. Ich blicke über das Tal Reuttes, das von oben ohne Überblick über die Anzahl an Dönerbuden richtig schick aussieht. Es hat eine gewisse Weite, ist nicht zu eingekesselt, die Berge sind keine Hügel, aber auch keine Massive, die einen erdrücken. Die Sonne lässt das Tal von früh morgens bis spät abends in eine Wärme tauchen. Die Voraussetzungen könnten schlechter sein.
Hier oben gibt es eine Vielzahl von „Invalidenmöglichkeiten“. Ein kleiner See kann in 10min umrundet werden. Ein Barfußpfad kann erkundet werden und 2-3 Hütten sind im Humpelumkreis erreichbar. Ich lese noch ein wenig am See und fahre dann wieder runter. Meine wunderbare Erfahrung mit Taxi/ ÖPNV bekommt eine Ergänzung, denn das Ruftaxi kann erst in einer Stunde kommen, und so „laufe“/ humpel ich mal wieder. Selbige Übung wiederhole ich Richtung Therme.
Der Saunabereich verfügt über fünf Saunen, ein paar Dampfbäder und einen Pool mit Blick auf das Highlight Nr. 3, die Burgruine. Aufgüsse gibt es in der Alpensauna. Und das Niveau des Miteinanders von Reutte schreibt ein neues Kapitel. Ein dicker Mann mit Schautzer setzt sich neben mich zum Warten. Ich schaue gekonnt woanders hin - er starrt mich an. Irgendwann verschwindet er wieder, bis ich einen Schauer von Eiswürfeln kichernd über meinen Rücken gekippt bekomme. Hihihi, so witzig! Der Mann - nennen wir ihn Heinzi - setzt sich neben mich in den Aufguss und starrt wieder mit großen Augen. Silvio, unser Saunameister mit im Takt schwabbelnder Oberweite und Bauch, begrüßt uns mit deutlichem Akzent. „Wenn du willst gehen raus, immer gehen können“. „In Eiswürfel Mentol“ und „Duft is Jojooooojo - you know?“ - die Gäste lachen. „Johannisbeere, Silvio“. Aber er gießt wunderbar auf und heizt während zwei Musiktiteln Mentol und Jooojooojo you know bestens ein. Ich ertappe mich dabei wieder darin die Bestätigung zu sehen, nach Fachkompetenz und nicht nach Sprachkenntnissen einzustellen.
„Ganz schön lange durchgehalten für so eine schöne Frau“ kommentiert Heinzi im Nachgang schnaufend. Irgendwie fühle ich mich wieder in der „Schatzi ich vermisse dich“-Schublade unseres Betriebsrats. In der letzten Ecke eines Ruheraums des Dachgeschosses verziehe ich mich - aber Heinzi findet mich. Nachdem ich ihm keine Beachtung schenke, lässt er endlich ab und geht. Es folgen weitere Aufgüsse, alkoholfreie Weißbiere und Lesestunden.
Draußen ist es düster geworden. Dunkle Gewitterwolken ziehen auf. Der Starkregen peitscht mit voller Kraft gegen die Glaswände des Ruheraums. Unter der Tür bildet sich eine große Pfütze - die Tür hält dem Wind und Regen nicht stand… Das Gewitter scheint nicht enden zu wollen, auch nicht als die Therme schließt und das Ruftaxi - oh Wunder - heute nicht mehr verfügbar ist. Aus meinem Handtuch mache ich einen dicken Turban und beginne mal wieder zu laufen…