Francesco, vom Campingplatz Arco, den ich auf der Malga Tuena im Brentagebirge im schlimmsten Gewitter kennengelernt hatte, pflanze in mir die Idee ein, es ihm gleich zu tun und zwischen zwei halben Arbeitstagen eine Wanderung mit Übernachtung einzubauen. Viele von uns haben die Möglichkeit sich ihre Arbeit frei und (zumindest teilweise) nach ihren Bedürfnissen einzuteilen. Dennoch nutzen wir diese Möglichkeit selten. Das Bürobeamtentum der „man muss“- Gesellschaft prägt uns sehr und lässt uns oftmals robotergleich morgens in der vollen U-Bahn oder in sich langsam bewegenden Autokolonnen den Weg ins Büro bahnen, um Selbiges abends wieder zu tun. Doch eigentlich kommt es auf die Arbeitsergebnisse an, egal wann und wo diese erbracht wurden. Die Coronapandemie schaffte es wenigstens Homeoffice aus einer belächelten Ecke herauszubringen und salonfähig zu machen.
Ist nicht jeder Mitarbeiter einer gestaltenden, nicht-abgetakteten, auf Denkleistung beruhenden Arbeit genau dann besonders produktiv, wenn dessen Biorhythmus, dessen individuelle Tagesform und dessen Bedürfnisse Raum finden? Natürlich ist das nicht in jedem Job möglich. Bei direktem Kundenkontakt würde man wohl kaum ein Schild an die Tür hängen „wegen akuter Wanderlust geschlossen“. Dort, wo es möglich ist, sollten wir dennoch versuchen hin und wieder dieses Privileg zu nutzen.
Nach einer Woche voller intensiver Workshops und Dienstreisen, schreit mein Kopf nach Stille, frischer Luft und Bewegung. Es möchte einige Diskussionen und Gespräche verarbeiten, sortieren, an die richtige Position „abheften“, um wieder bereit für Neues zu sein.
Und so erledige ich an einem Vormittag allerlei Mails, Abrechnungen und Freigaben, bevor ich gegen Mittag alleine Richtung Achensee aufbreche. Die Herbstsonne strahlt klar und intensiv auf meine Nasenspitze. Der Fahrtwind umspielt die freudig aufgeregte Fahrt des Mini Cabrio und lässt Haarsträhnen in meinem Gesicht tanzen. Leider bin ich nicht die einzige, die heute in die Berge möchte, und so hat auch der Mini einen entspannten Tag, deutlich unter seiner Leistungsfähigkeit…
Die bunten Laubwälder reflektieren das warme Herbstlicht in allen Farben und rahmen bereits die Anfahrt in ein kitschiges Setting. Bob Ross hätte eine wahre Freude gehabt mit einem Kleckschen Ölfarbe hier und da eine derartige Herbstlandschaft zu erschaffen. Nur die Kolonnen Motorradfahrer, die dieses wunderbare Oktoberwetter frönen, hätte er aus dem Stillleben herausgehalten.
Angekommen an der Rofanseilbahn beschäftige ich mich für meinen Geschmack etwas zu lange mit der Parkplatzsuche. Wer hier zukünftig, wie ich, nach der Möglichkeit sucht für zwei Tage zu bezahlen: das geht nur analog am Schalter. Ein handbeschriebener Din-A4 Zettel dient schließlich als Parkschein.
Der Weg scheint im untersten Bereich die Skipiste zu sein und überquert holzbefestigt den Bach. Ein Kiesweg führt in den Wald hinein. Etwas enttäuscht stelle ich fest, dass es sich um einen reinen Nadelwald handelt und die erhoffte Farbenvielfalt, die sich mir auf der Hinfahrt bot, ausbleibt. Es ist heiß, für Oktober, ca. 25 Grad und ich bin froh um den Schatten der Bäume. Ca. 400 Höhenmeter steige ich auf einem Waldpfad auf. Immer wieder sehe ich durch die wenig dicht stehenden Bäume das weite Panorama des Achensees hinein ins Inntal und Zillertal. Meine Gedanken tanzen und springen von einem Thema zum nächsten, versuchen Ordnung zu schaffen. Schritt für Schritt gewinne ich an Höhe und an gedanklicher Freiheit. Irgendwann stoße ich auf einen Fahrweg. Schilder weisen auf die Jausenstation Buchauer Alm hin. Eine verschlossene dunkle Alm mit großer Terrasse scheint im Winter geöffnet zu haben. Ich befinde mich am Ende eines Sesselliftes, der im Sommer morbide und deplatziert wirkt. Der Wanderweg führt auf der Skipiste entlang. Übergroße Pilze wachsen mitten auf dem Weg. Ich folge ihm weiter durch den Wald bis ich schließlich auf einer weiteren Almwiese am Fuße eines Bergrückens stehe, die wieder die Skipiste zu sein scheint. Das klare warme Licht der Herbstsonne legt sich sanft in den Hang und beleuchtet die gelb-grünen Farben der Nadelbäume und das saftige Grün der Wiese. In weiter Ferne kann ich in kaltem Weiß den Hintertuxer Gletscher wie einen Zuckerhut hinter all dem Grün der bewaldeten Berge entdecken. Es sind Momente wie diese, die das Wandern so bereichernd machen. Momente, in denen ich einfach nur wahrnehme, beobachte, in denen die Zeit still zu stehen scheint. Für einen kurzen Augenblick bleibe ich hier bis ich wieder Richtung Erfurter Hütte aufbreche. Der Piste folgend kann ich hochoben schon eine Fahne entdecken. Ein paar Serpentinen noch und ich erreiche die Rofanbergstation. Einige Lifte und Anzeigetafeln sind zu erkennen, ein Spielplatz, und eine Art Flying Fox… Ich setze mich in die glühend warme Sonne auf der Terrasse der Erfurter Hütte und staune über das beeindruckende Panorama zwischen Tux und Achensee.
Der Marillenkuchen und die heiße Schokolade schmecken grandios, nur der lieblose Service schmälert das Hüttenerlebnis. Ich bleibe auf der Terrasse bis die Sonne hinter der Bergkette untergeht und die blaue Stunde die Eindrücke prägen. Das „Fremdenzimmer 1“, ein Einzelzimmer am Ende des Ganges, ist meines. Es hat mit einem Blick auf Achensee und Bergkette einiges zu bieten und ist mit Strom und Tisch vergleichsweise gut ausgestattet. Ich verbringe den Abend in der gemütlichen Holzstube der Hütte und freue mich am nächsten Tag erst mittags zu arbeiten.
Am nächsten Morgen versuche ich die Morgenstimmung einzufangen und die Fototipps, die ich bekommen habe, zu beherzigen. Ich bin zufrieden mit meinen Sonnenaufgangsbildern und überlege dennoch etwas mehr über das Fotografieren zu lernen.
Wie immer, wenn ich alleine wandern bin, stehe ich als letztes auf und orientiere mich an der Frühstücksendzeit. Das Buffet ist für Hüttenverhältnisse vielfältig und gut. Bei mehreren Tassen Kaffee wache ich langsam auf und denke daran, wie ich in anderen Wochen in den Tag gestartet wäre. Ich wähle für den Abstieg einen anderen Weg und breche Richtung Dalfazalm auf. Der Weg führt mich zunächst auf der Höhe den Bergrücken entlang, um schließlich einen Haken zu schlagen und in den Wald zu führen. Von dort aus erreiche ich wieder eine Skipiste auf der ich nun durch den Matsch hinabsteige. Nach einiger Zeit treffe ich wieder auf den Fahrweg zur Buchauer Alm. Ich beschließe nicht dem gestrigen Waldweg, sondern dem Fahrweg zu folgen. Ein paar Radler und Wanderer kommen mir entgegen. Meine Gedanken der Wanderung mischen sich langsam wieder mir Arbeitsthemen mit jedem Meter, dem ich mich meinem Auto nähere. Ich genieße die Bewegung in der Früh und merke wie gut mir diese zwei Stunden Abstieg als Tagesstart tun. Noch einmal genieße ich die frische Luft, Bewegung und Ruhe, bevor ich mich schließlich begleitet durch Anrufe und Telefonkonferenzen auf den Heimweg mache, um dort den Rest des Tages zu arbeiten.
Immer wieder denke ich an Francesco, der mich auf diese Idee gebracht hat. Dieses Konzept werde ich, wenn es der Kalender hergibt, noch öfters erproben.