Familie Högner hatte mich schon früh inspiriert von Garmisch zum Gardasee zu laufen. Ich mag es, ein Ziel am See oder Meer zu wählen, um dort in der Ruhe des Wassers, der homogenen Optik des weiten Blaugrüns und der gleichbleibenden Höhe einen Gegenpol zur bezwungenen Alpenüberquerung zu finden. So blicke ich bei einem Glas Lugana am frühen Nachmittag über Gargnano am Gardasee oder um es mit Harry Gs Worten zu sagen: „Gargnano - Die Genießerfraktion, Münchner Anwälte, die an ihrem Lago einen auf Zampano machen (…) und diesen greisligen Cà dei Frati saufen“.
Innerlich verteidige ich die Münchner Bussi-Bussi-Genießerfraktion, schwelge im Luxus, denn schließlich habe ich für diese drei Tage Wellness drei Wochen Anmarsch investiert.
Ich freue mich über die modische Auswahl meines kleinen Koffers, den meine Schwägerin (danke!!) vor drei Wochen hier deponiert hatte. Der Parkplatz ist voll von Porsches, Lamborghinis und Maseratis. So kommt es, dass wir schnell zur Besonderheit werden: zu fuß (und anschließend mit der Fähre ab Riva) sei noch nie jemand angereist. Ein paar „verrückte Berliner“ kämen wegen des Klimaschutzes 1x/ Jahr mit dem Zug.
Der „greislige“ Lugana schmeckt herrlich, der Überlauf des Infinitypools plätschert im Hintergrund und optisch wirkt es, als würde das Wasser direkt in den Gardasee fließen. Drei Wochen liegen hinter uns, drei Wochen voller Anstrengung, voller gedanklicher Tiefe, voller wetterbedingter Herausforderungen und voller wertvoller und seltsamer Begegnungen. Es war die erste selbst zusammengestellt Fernwanderung. Ansonsten verlasse ich mich auf die Touren, Zeiten und die Einteilung des Rother Bergverlags. Dieses Mal war der Blog der Familie Högner die grobe Basis, um schließlich schon in der Planung in weiten Teilen davon abzuweichen. Wir kennen die Högners nicht und dennoch waren sie als Referenz und manchmal als verzweifelter Fluchgegner allgegenwärtig. Bereits auf der zweiten Etappe schafften wir das Leistungsniveau dieser Bergfamilie nicht. Wir mussten erschöpft umplanen und folgen schließlich dem L1 (Garmisch-Brescia) bis sich an der Winnebachseehütte unsere Wege wieder trennen.
Die Stubaier Alpen und Ötztaler Alpen sind (ebenso wie die Tuxer Alpen - siehe Traumpfad München-Venedig) schroff, kahl und unwirtlich. Die Wanderung zwischen Stams und Vernagtstausee, welche grob eine Woche in Anspruch nimmt, zeichnet sich durch Geröll, Murenabgänge und wenig liebliche Ausblicke aus. Das Panorama der zahlreichen Gipfel und Jöchl ist dennoch durch die Vielzahl an Gletschern und Felsmassiven imposanten und lässt Auge und Geist ruhen, ohne von Fauna und Flora abgelenkt sein zu können. Am besten gefallen mir die Hütten in diesem Tourabschnitt: sie sind belebt, voll von Wanderern, deren Wege sich durch das Überschneiden einer Vielzahl an Fernwanderungen aus allen Richtungen kreuzen. So querten wir unter anderem den Adlerweg, den E5, den L1, den Sellrainer Höhenweg und sicher noch viele mehr. In den Stuben der Hütten treffen wir Jung und Alt, jeder mit seinem individuellen Ziel und seiner Geschichte, freudig bereit sich mit anderen auszutauschen. In diesen Hütten ist jeder gleich. Man interessiert sich für die wohltuende Duschmünze, das Bergsteigerabendessen, ein gutes Bier oder Glas Wein, das gute Gespräch mit den Zufallsbekanntschaften und für die Vorbereitung des nächsten Tages. Diese Hütten haben ihre eigenen Regeln, einen eigenen Flair. Besonders gut hat mir die Schweinfurther Hütte gefallen, irgendwo im Nirgendwo, gut in Schuss, Falstaff-prämiert, frei von Handyempfang mit dem besten selbstgebrannten Lärchenschnaps der Welt. Diese Hüttengemütlichkeit verliert sich jäh im italienischsprachigen Trentino, meist zu erkennen an aus der Zeit gefallenen Wachstischdecken und einer Karte voller breiger Polenta mit Toast. Und egal auf welchem Weg ich die Alpen überquere: ich bin immer zu kurz in Südtirol. Nach drei Tagen ist man meistens schon wieder durchgelaufen. Drei Tage voller Wanderungen, die sowohl imposante Ausblicke bieten, als auch durch saftige Wiesen und grüne Wälder, untermalt von Kuhglocken, liebliche Eindrücke einer Milkawerbungslandschaft vermitteln. Dazu servieren äußerst gastfreundliche Südtiroler beste Brotzeiten, „irgendwas mit Trüffel“ (Harry G) und guten Wein. Südtirol ist in jeder Hinsicht perfekt. Vielleicht ist diese Sehnsucht länger dort unterwegs zu sein der Grund, warum ich wenige Tage nach unserer Rückkehr, in der Reisebuchhandlung Freytag & Berndt in Regensburg den Rother Wanderführer „Meraner Höhenweg“ kaufe, nachdem ich gedankenversunken nach neuen Träumen stöberte…
Zwischen Martelltal und Terzolas empfehle ich eine neue Route zu testen. Ggf. (ohne Gewähr) von Martell zur Hinteren Flatschbergalm von dort zum Rifugio Stella Alpina über Rabbi nach Male. Auch hier haben die Högners einen anderen Weg gewählt, der unter Beachtung des eigenen Könnens, zurate gezogen werden kann.
Ab Terzolas eröffnet sich uns das Brentagebirge, welches uns wetterbedingt zu schaffen machte. Den Schreck der Martelltal-Ultental-Etappe noch in den Knochen, analysieren wir jede Wolke, sowie die stundengenauen Vorhersagen genau. Die Wege sind herausfordernd. Durch die Gegensätze von sanften Wiesen und schroffen, steilen Felswänden, dazu klare dunkle Bergseen ist die Brenta ein spannendes Gebirge, das nach einer Rückkehr schreit. Die vielen Klettersteige und Kletterwände parken in meinem Kopf die Idee einer längeren geführten Klettersteigtour. Leider sind wir auch hier wetter- und kräftebedingt zum Lago di Molveno abgestiegen, statt das Rifugio Al Cacciatorre als letzte Bergübernachtung anzusteuern. Für warme Campingurlaube ist der Lago di Molveno dennoch eine recht wenig besuchte Entdeckung.
Wie immer endet jede Wanderung viel zu früh. Am Tag 20 beim Abendessen im Maso Pertener bin ich traurig, dass die Zeit schon wieder vorbei ist. 20 Tage lang hatte ich meinen Geist befreit von dem Unkraut des Alltags, von alten unliebsamen Wurzeln, die ich längst aus meinem Inneren reißen wollte, um dort Neues, Buntes zu sähen. Wann haben wir sonst schon die Zeit so intensiv zu beobachten, im Innen und Außen, den Geist schweifen zu lassen, mal präsent, mal völlig abwesend, gedankenverloren. 20 Tage ging es darum im Einklang mit dem Körper zu leben, auf ihn zu hören, mit ihm zu verhandeln, ihn zu motivieren und mit ihm gemeinsam Ziele zu erreichen. 20 Tage prägte Langsamkeit und das Klacken meiner Stöcke meinen Rhythmus. Wann sonst lassen wir es zu, bewusst langsam zu sein? Dann anzukommen/ „fertig zu sein“, wenn man eben abgekommen ist, jeder in seiner individuellen Geschwindigkeit und in seinem Takt. Am 21. Tag würde ich gerne weiterwandern. Ich sehne mich nach der Erfüllung meines größten Wunsches: von Wien nach Nizza in ca. 4 Monaten zu laufen. Ich möchte wissen, was diese Zeit der Stille, der Leere, diese lange Gehmeditation mit mir macht. Jede Woche dieser Wanderung war mental anders. Mit jeder Woche kam ich meinem Kern näher und mit jeder Woche nahm meine Freiheit und Leichtigkeit zu.
Und so nahm ich das Ankommen nicht als Ende wahr. Sondern nur als Haltepunkt zwischen zwei Träumen. Es wird weitergehen - ich werde weiterlaufen. Und ich freue mich, wenn du mich als Leser wieder dabei begleitest.