Winter is coming - Altes Wallberghaus

Freitagnachmittag, der Tag war voll mit Workshops, Telefonaten, etc. Das Leben geht schon wieder in die Beschleunigung. Umso wichtiger ist es, zum Wochenende hin wieder die Bremse reinzuhauen, um nicht von Null auf Hundert in das bereits voll beschleunigte Hamsterrad des Lebens einzusteigen und aus der Kurve zu fliegen. Es schüttet wie aus Kannen. Das ganze Auto ist voller Regenüberhosen, Regenjacken, Mützen und Stirnbändern. Gerade war noch heißer Sommer, alle waren baden und Eis essen. Doch kaum sind die Sommerferien vorbei, zieht der Herbst ins Land und bereitet uns die perfekte Grundlage wieder an Arbeit, Output und Leistung zu denken, ohne Ablenkung an den Seen und in den Biergärten dieser Welt zu finden.

Es ist unser letztes gemeinsames Wochenende vor meinem beruflichen Neustart. Vielleicht einer der letzten Momente Ruhe, denn meine neue Assistentin hat mich heute schon gebeten ihr volle Rechte an meinem Kalender und Postfach zu geben. Mein Oktober sei nämlich bereits randvoll. Ich schicke ihr noch ein paar Termine, die ich im Kopf habe, und starte ins Wochenende.

Keiner scheint hier zu sein an der Bergbahn Wallberg. Der Angestellte hängt extra für uns manuell eine Gondel ein und wir machen es uns in der nostalgisch alten Bahn gemütlich. Regen peitscht unermüdlich gegen die Fenster. Irgendwann geht er in Schnee über und bezuckert schwer und nass die Nadelbäume. Oben angekommen ziehe ich alle Schichten an, die ich dabei habe und stürze mich ins kühle Nass diesen Septembertages.

Der Schnee ist bereits ca. 20cm tief. Mein kaputtes Knie kämpft ein wenig solch hohe Schritte zu machen. „10min von der Bergstation“ stand auf einer Werbetafel an der Bahn. „20min Richtung Setzberg“ weist hingegen ein schickes Holztaferl den Weg. Wir folgen einer verschneiten Forststraße, vorbei an einer vereisten Kapelle. Es geht ein paar Kurven hinab. Die Bäume sind inzwischen in Weiß gehüllt und die Schwere des Schnees ziehen die Zweige hinunter. Wir entdecken noch zwei andere Wanderer vor uns, die in Schnee und Nebel ebenfalls den Weg suchen. Nach weiteren 10min stellen - wohl beide - fest, dass wir nebelbedingt falsch abgebogen sind, laufen ein Stück zurück, bis wir vor dem Alten Wallberghaus stehen. Die Spuren im Schnee weisen uns den Weg über die Terrasse in die Stube.

Ein Aperitif läutet den Nachmittag ein. Es gibt Prosecco oder ein kleines Bier, das in 0,1 Weißbiergläschen ausgeschenkt wird. Dazu wird die Abendkarte vorgetragen. Das Haus gehört zu den bekannten Tegernseer Hotels „Bachmair Weissach“ und „Bussi Baby“, die definitiv außerhalb der Möglichkeiten meines Geldbeutels liegen. Hier oben hat die Unternehmensgruppe eine Art Luxushütte erschaffen mit Doppel- und Mehrbettzimmern, Dusche am Gang, Sauna und exklusiver Halbpension. Die Zimmer sind einfach eingerichtet, mit Bauernkommode, Waschbecken und einem kleinen Plattenspieler mit einer Elvis-Platte. Bewusst "digital free" möchte man sein. Es gibt Spiele und Bücher zum Ausleihen und kein Handynetz. Sollte etwas sein: bitte schickt eine Brieftaube!

Die Sauna bietet Platz für maximal vier Personen und liegt im wohl früheren Stall des Hauses. Wir stapfen barfuß durch den Schnee hinüber, vorbei an verschneiten und vereisten Liegestühlen, Fleecedecken und Getränkespendern. Alles sieht noch nach kürzlichem Sommer aus - ein wenig wie eine Szenerie aus „The day after tomorrow“. Zischend findet eine Kelle Aufguss nach der anderen seinen Weg auf die heißen Steine des Saunaofens. Ein kleines Fenster böte Blick ins Tal, doch die dicken Schneeübergänge des Dachs lassen kaum einen Blick nach außen zu. Wie gut, dass ich 10€ mehr in ein Zimmer mit Aussicht statt ohne investiert habe, denke ich mir grummelnd…

Meinem spontanen Impuls einen Schneeengel nach der Sauna zu machen, komme ich bibbernd doch nicht nach. Der Schneeengel soll für immer meinem Mitarbeiter gehören, der auf meinem Ausstand in der Chamer Hütte um 2Uhr nachts rabenvoll auf die Idee gekommen ist, das umzusetzen. Wir feiern dich immer noch dafür :-).

Das Abendessen schmeckt wunderbar. Es gibt - hüttentypisch - Garnelen zur Vorspeise, ein superzartes Kalbsfilet als Hauptgang und Nougatknödel als Nachspeise. Die Hüttenruhe wäre eigentlich um 22Uhr und die kleine Nebenstube darf noch länger genutzt werden. Wie immer gebe ich allerdings um 21:00 auf um im Land der Träume zu versinken.

Am nächsten Morgen weckt mich der Sound der Schneefräse. Die Fenster der Stube sind so dick verschneit, dass sie keinen Blick nach außen zulassen. Die Bahn scheint nicht zu fahren. Da mein Knie keinen Abstieg zulässt, überlege ich mir oben einen Schlitten zu leihen. Mir fällt nichts Besseres ein… Alle starten wilde Umplanungsdiskussionen.

Irgendwann gibt die Bedienung ein Startzeichen. Wenn wir Bahn fahren wollten, müssten wir jetzt los, sie fahre kurz bevor der Wind wieder auffrischt und sie zur Schließung zwinge. Wir machen uns auf in den Schneesturm. Eine Touristengruppe ist vor uns. Eine Asiatin kämpft sich mit Rollkoffer durch den Schnee. Das ist die Kehrseite eines solchen „Berghotels“, wenn man es so nennt und anpreist. Jeder Schritt sinkt Minimum knietief ein. Die Stöcke (1.40cm) versinken teilweise bis zum Gummikopf. Es muss ein Meter Schnee gefallen sein. Mein Knie protestiert bei jedem Schritt, einer solchen „Invalidentour“ habe es nie zugestimmt, doch es hilft nichts. Das hat der Orthopäde bestimmt nicht gemeint mit „machen Sie alles, was die Schiene hergibt“. Der Weg ist eigentlich so kurz, doch wir kämpfen uns durch die Schneemassen. Müder und müder werde ich und langsam zunehmend verzweifelter. Völlig fertig erreiche ich irgendwann die Bergstation. Froh im Warmen zu stehen, werde ich vom (heute bestimmt nicht brauchbaren) Koch lautstark angepflaumt, ich solle nochmal raus (weil dieser Seilbahnlinoleumvorraum ja so sauber ist?) die Schuhe abzuklopfen. Er bringt damit mein persönliches Fass zum Überlaufen und bekommt die volle Laune dieses Moments ab. Erschöpft sinke ich in die Gondel der Bahn, lehne den Kopf ans Fenster und schließe die Augen…

Als wir über und über nass und tropfend an der Rezeption unseres Talhotels stehen, erreicht uns Verständnis und wir dürfen sofort ins Zimmer. Glücklich, dass ich keine Drei-Minuten Duschmünze habe, genieße ich das heißkochende Wasser der in die Jahre gekommenen Brause. Meine Füße sind so verfroren, dass es bestimmt 10min dauert, bis aus Schmerz ein Empfinden und eine Unterscheidungsfähigkeit zwischen heiß und kalt wird. Frisch gegart schlafe ich ein…

Es ist so schön mal am Tegernsee zu bleiben. Normalerweise stehe ich hin und zurück mit allen anderen Münchnern im Stau, um an einem Tagesausflug Lieblingsortluft zu schnuppern. Mit all den anderen Apérol-Spritz-Münchnern laufe ich sonst zur Aueralm, zum Gasthof Neureuth, sitze im Bräustüberl oder im Wenikaufguss der Seesauna. Heute bleibe ich.

Gedankenversunken rühre ich meinen Zartbitter-Schokostick in meiner heißen Milch im Aran (ehem. Cafe zum Schloss) um. Ich bin gerne hier. Es ist schick eingerichtet mit Caféhaustischen und Couch. Im Wintergarten bietet die große Glaswand einen wunderbaren Blick auf das raue Wetter des Tegernsees und den dahinterliegenden Bergen. Der See dampft richtig wie ein Whirlpool, denn durch die Sommerhitze der letzten Woche scheint er noch deutlich wärmer zu sein als die Umgebung.

Im Café filtert die Selbstbedienung das unselbstständige, zu verwöhnte Tegernseepublikum natürlich raus. Selbst bei unserer Hochzeit haben sie keine Ausnahme gemacht und ich stellte mich damals mit meinem selbstgenähten, weißen Brautkleid in die Schlange, um meine große Schüssel Cappuccino zu holen. Wir sitzen noch ein wenig hier, diskutieren über unsere Renovierung, nächste Baustellenthemen, ein Leben in den Bergen und Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Österreich und Deutschland.

Am Abend spazieren wir hoch zum Luxushotel „Das Tegernsee“. Ich hatte einen Gutschein - danke liebe Münchner Werkslogistik - wovon wir heute Abendessen gehen. Das Hotel liegt leicht erhöht am Leeberg. So muss Manuel Neuer wohl auf den Tegernsee blicken. Da es zur Spielerfrau nie gereicht hat (zu gut ausgebildet und zu klein für mein Gewicht), muss ich wohl oder übel selbst mein Geld verdienen, und meistens abends nach einem Tag am Tegernsee wieder heimfahren. Das Essen schmeckt wunderbar und der würzig raue Südafrikanische Rotwein rundet diesen Genussmoment ab.

Am nächsten Morgen heißt es Warten, denn der Tegernseelauf führt an unserem Hotel vorbei. Bei Eiseskälte laufen einige Hundert Teilnehmer einen Halbmarathon rund um den See. Oft habe ich mit dem Gedanken gespielt mitzumachen, doch die zu bewältigenden Höhenmeter schreckten mich bisher ab.

Ich beschließe mich stattdessen auf das zu konzentrieren, was ich besonders gut kann: Prosecco trinken. Und so genießen wir noch einmal den Ausblick auf den kühlen See und warten darauf bis der Lauf vorbeigezogen ist. Es ist doch immer wieder schön hier zu sein…