Tag 8: Hanauer Hütte - Muttekopfhütte
Ich schlafe über die Entscheidung. Doch Joris letzter Satz, dass wir auf der Muttekopfhütte nach der gemeinsamen Tour ja nochmal zusammen Sternschnuppen gucken können, ist so charmant, dass er mich fast überzeugt. Seine Tochter sei nun auch bereit zu laufen, eröffnet er mir am Frühstückstisch. Nun hat er mich - wie soll ich denn nein sagen, wenn selbst das pubertäre 13-jährige Mädl motiviert genug ist?
Wir brechen gemeinsam auf.
Innerlich bricht eine Unruhe aus: Was, wenn ich für diese sportliche Familie zu langsam bin? Schaffe ich die Etappe? Ich möchte sie nicht aufhalten. Hätte ich nicht besser ins Tal und direkt zur Anhalter Hütte gehen sollen? Was zur Hölle hat mich geritten so zu entscheiden? War es das Lehrer-Gen niemanden zurückzulassen, die Schwächsten zu fördern? War es die Idee eine Begleitung für sein pubertäres Mädl zu finden? War es der Wunsch nach einem gemeinsamen Glas Wein unter klarem Sternenhimmel?
Isabel und ich steigen gemeinsam auf. Joris und Larsse rennen schnellen Schrittes voraus. Ich schnaufe, ich schwitze, als hätte die letzte Woche Wandern nicht stattgefunden. Pause heißt Pause auf holländisch. Wichtigste Erkenntnis und Kommunikationsform zwischen Isabel und mir. Immer wieder schaut sie mit ihren viel zu langen Acrylnägeln auf ihr Handy. Kein Netz ist ihr größtes Problem heute. Aber wir nutzen jede Netzchance gemeinsam. Sie zum chatten, ich, um wieder und wieder zu checken, wie viele Höhenmeter noch vor uns liegen. So sind wir nach kurzer Zeit ein gutes Team geworden: wir laufen im gleichen Takt, brauchen ähnliche Pausen, motivieren uns „almost“ am Gipfel/ Grad. So viel „fast“ wie heute gabs noch nie. Ich übernehme die „wann sind wir endlich daaaaaaa?“ - Antwortrolle.
Am Grat angekommen machen wir eine kurze Pause. Die Acrylnägeln scheitern am Taschenmesser, an der Brottüte und an den Bergschuhen. Aber hey - Hauptsache schön. Ich erinnere mich selbst, wie eine Klassenkameradin in der 9. Klasse Acrylnägel hatte. Wir waren alle neidisch.
Wir steigen wieder hinab in ein saftig grünes Tal. 300 Höhenmeter geht es hinunter, um direkt in den Gegenanstieg überzugehen. Als wir unten angekommen sind, sind bereits vier Stunden vergangen. Und wir laufen tatsächlich so schnell wie die Zeitangaben… Während der Pause pritschelt Larsse im Bach. Er scheint noch unbändig Energie zu haben.
Wir beginnen wieder mit dem Aufstieg. Der Untergrund wird immer steiler, gerölliger und schwieriger. Man muss aufpassen, dass man auf wackeligen Steinen nicht umknickt. Irgendwann wird es so steil, dass die Stöcke nur noch im Weg sind, weil wir uns besser mit den Händen senkrecht, direkt vor der Nasenspitze hochziehen können. Manchmal sind die Trittmöglichkeiten nur einen Fuß breit. Ich bewundere den Mut von Joris diese Strecke mit seinen Kindern zu laufen. Vielleicht lernt man genau in diesem Alter die Sorgen beiseite zu legen und einfach hochzukraxeln.
Larsse rennt wie immer glücklich voran, Joris hinterher. Isabel und ich schnaufen gemeinsam nach oben und motivieren uns gegenseitig, dass wir bestimmt „fast“ oben sind. Als wir das Gipfelkreuz des Muttekopf in der Ferne erblicken, beschließen wir uns zu trennen. Die Männer nehmen gemeinsam den Gipfel mit, während wir Mädls über den Grat direkt weiter zur Hütte absteigen. Durch deren Geschwindigkeit werden sie uns sicher im Laufe des Abstieges einholen. Und nun spüre ich einen Change: durch die Verantwortung für meine heutige Ersatztochter bin ich wieder voll fokussiert, motiviert, die Müdigkeit hat keinen Platz mehr. An manchen Stellen helfe ich ihr, nehme sie an der Hand. Ich funktioniere - als Guide, als Motivator, als Ersatzmama.
Am Grat angekommen, sehen wir uns das weite Panorama an, doch aufgrund des kalten Windes und der vermehrten Wolken sind wir besorgt, ob nicht doch (obwohl nicht angekündigt) ein Gewitter kommt und machen uns an den raschen Abstieg. Wieder geht es gefühlt senkrecht an Seilen und Trittstufen hinunter. Ich klettere voraus, Isabel hinterher. Immer wieder rutschen wir, müssen uns konzentrieren. Irgendwann brauchen die Acrylnägel eine Pause (es hat schließlich Netz) und wir setzen uns in die Sonne. Drei Österreicher rennen im Trail-Running-Modus an uns vorbei. Woher sie die Stabilität nähmen, frage ich. Doch bevor ich eine Antwort bekomme, sind sie schon weiter. Unsere Männer stoßen wieder zu uns hinzu. Und während Isabel beim Abstieg an Geschwindigkeit gewinnt, kämpft ihr Bruder mit den Kräften, genauso wie ich, denn ich falle wieder in den „es ist jemand anderes verantwortlich“-Modus und verliere mein „Hey alles ist doch so super heute“- Animateur-Gesicht. Ich falle weit zurück und steige als letztes immer weiter ab Richtung Hütte. Der Tag war lang, meine Beine sind unendlich müde. Und in all der Unachtsamkeit legt es mich noch einmal voll auf die Nase. Gott sei Dank an einer sehr einfachen Stelle.
Wir Mädls quälen uns die letzten Meter. In einer kurzen Whatsapp schreiben wir, was wir gerne trinken würden, in der Hoffnung 5min auf der Terrasse zu gewinnen.
Und irgendwann, nach acht langen Stunden, sehen wir sie: die Muttekopfhütte. Ein buntes Treiben aus Kletterern, Slackline, Spielplatz und Materialseilbahn umgibt sie. Völlig k.o. schmeißen wir die Rucksäcke auf den Boden, ziehen die Schuhe aus und trinken unser Wunschgetränk.
Ich bin unendlich dankbar, dass mich Joris heute mitgenommen hat. Weit über mein eigenes Zutrauen bin ich heute gegangen. Schon oft bin ich diese Dauer und diese Anzahl an Höhenmetern gelaufen, jedoch nie in diesem Schwierigkeitsgrad bei dieser Affenhitze mit Ersatztochter. Ich habe das Gefühl, trotz kleinem Sturz und einigen Schürfwunden heute meinen Unfall vom letzten Jahr ein für alle Mal abgeschlossen zu haben.
Die Hütte ist komplett voll und wir verteilen uns auf die Restplätze in verschiedenen Zimmern. Wohlig warm geduscht fühle ich mich wie ein neuer Mensch nach diesem harten Tag.
Wie ich heute wohl so lange wach bleiben soll, um das ursprüngliche Ziel noch einmal gemeinsam Sternschnuppen schauen zu können erfüllen zu können? In weiter Ferne sehen wir eine Aussichtsplattform. Die müsste doch ohne Rucksack schnell erreichbar sein? Ob man von dort ins ganze obere Inntal blicken kann? Irgendwas muss sie ja können, diese Plattform.
Und so beschließen wir den vermeintlich kurzen Weg dorthin zu gehen. Wieder geht es über Seilsicherungen, Stufen und Geröll. Irgendwie hatten wir uns den Abendspaziergang leichter vorgestellt. Als wir schließlich ankommen, stellen wir fest, dass der Ausblick fast derselbe ist, wie der der Hütte. Wahrscheinlich dient die Plattform zum kurzen Spaziergang von der Bergstation des Sessellifts und nicht als aussichtsreiches Add-On der Muttekopfhütte. Ob es, weiter oben noch eine bessere Sicht gibt? Immer weiter entfernen wir uns von der Hütte.
Hier liegen Kühe müde und gelangweilt in der Wiese. Imst liegt zu unseren Füßen. Es wird langsam dunkler, die blaue Stunde beginnt und Imst erstrahlt in einen „Lichtermeer“. Wir bleiben ein wenig und genießen nach diesem Tag diesen schönen Abschluss, bevor wir mit Stirnlampen den Weg zurück antreten.