Tag 7: Steinsee Hütte - Hanauer Hütte

Gestern Abend saß ich lange an meinem kleinen Tisch in der Stube, trank mein naturtrübes Radler und las. 

Noch glücklicher als allein in der Natur bin ich alleine unter Menschen, die sich alle nicht für mich interessieren, sondern ihr Ding machen. Ich liebe es - wie mit Harry Potters Tarnumhang - anonym in deiner Stube zu sitzen. Die Menschen lachen, die Menschen lesen, sie spielen Karten, sind laut, freudig. Und ich bin hier für mich und lese. 

Keiner erwartet etwas von mir, keiner braucht mich, keiner bewertet mich. Ich bin frei und ohne Last. Ich finde nichts schöner und befreiender als gerne allein zu sein. So ist Gesellschaft eine schöne Option, aber kein Muss. Dennoch scheint diese Haltung selten zu sein, denn immer wieder muss ich die bemitleidende Frage „hatte niemand Zeit?“ beantworten. Nein - Zeit für mich ist ein Geschenk, nie fühle ich mich freier als in der Natur und der Anonymität. Ich gehe meinen Takt, ich mache meine Pausen, ich gehe ins Bett, wann ich möchte, ich wandere so weit ich möchte. Ich spreche wenig, schweige viel. Welch Wohltat, nachdem mein Job mein Wortkonto dieses Jahr schon aufgebraucht zu haben scheint. 

Ich träume davon von Wien nach Nizza zu laufen, 4 Monate, nur die Berge und ich. Aber immer wieder, merke ich auf dem Lechtaler Höhenweg, Widerspruch in mir, wenn es nur aus Geröll bestände, dann bitte nicht. 

Langsam macht mich das Copy & Paste der Lechtaler Alpen müde. Es muss ein tolles Skitourengebiet sein, dann nämlich würden 4-5 gekonnte Schwünge das Geröllrutschen ersetzen. 

Ich starte wieder los nach einem gemütlichen Frühstück. Hoch zum Steinsee, den ich gestern aufgrund der Höhenmeter verschmäht habe. Ich beobachte einige Kletterer, die sich aufmachen zu den umliegenden Klettergärten. Ich selbst steige zur westlichen Dremelscharte auf. Schnell wird es steiler und anspruchsvoller. Eine Seilsicherung läd zum Kraxeln ein. Konzentriert ziehe ich mich nach oben - Stück für Stück. Schon am Morgen ist es sengend heiß. Schon bald bin ich oben angelangt und schaue ins Tal hinunter zur Hanauer Hütte. Sie scheint zum Greifen nah zu sein. Und trotzdem rutsche ich vorsichtig Schritt für Schritt hinab. Das Geröll fordert wir immer viel Aufmerksamkeit. Ich brauche deutlich länger als die angegebene Zeit. Irgendwann komme ich ins flachere Gelände. Der Duft der südlich anhauchenden Latschenkiefern steigt mir in die Nase. Rosa Blüten blühen - es ist herrlich. Viel zu spät und trotzdem früh am Tag komme ich an.

Mit einem kühlen Radler setze ich mich auf die Terrasse und lese… 

Die Hütte wird voller. Und während ich mein Bier genieße, komme ich mit einem charmanten holländischen Sportlehrer ins Gespräch. Seit seiner Kindheit sei er schon oft in den Lechtaler Alpen gewesen. Jetzt ist er mit seinen zwei ältesten Kindern hier und möchte morgen zur Muttekopfhütte. 

Ich selbst führe noch ein Streitgespräch mit mir selbst - ich hadere. Denn die Tour ist mit 7h ausgeschrieben, natürlich schwarz und der Rother Wanderführer spricht von einer „besonders ernsthaften Herausforderung“ und „keinem sonderlich vertrauenserweckendem Terrain.“ War es also bisher so easy? 

Wir ratschen und trinken mit Danny, einem Berliner Informatiker auf Umschulung, einen Schnaps nach dem anderen. Trinke ich mir Mut an, mehr Entscheidungsfreude? Vielleicht aber versuche ich auch einfach wach zu bleiben, denn heute ist Sternschnuppennacht. Wir beobachten den klaren dunklen Himmel, und alle: Danny, Joris und beide Kinder sehen jeweils Sternschnuppen, nur ich gucke immer in die falsche Ecke des Himmels…