Tag 4: Berchtesgaden- Bad Reichenhall

Ich starte spät am frühen Mittag in Berchtesgaden. Zahlreiche Villen erinnern an die aufstrebende Blütezeit Berchtesgadens Mitte des 19. Jahrhunderts als Tourismusort.  Künstler und Schriftsteller hat es hierher verschlagen, um in geistiger Freiheit sich ganz ihrer Kreativität hinzugeben. Ich denke über die Künstlergruppe "Der blaue Reiter" nach, die in Murnau wohnten und malten. Die Interpretation des expressionistischen Gemälde „Murnau mit Kirche II“ von Kandinsky bescherte mir einst meine beste Kunst-Klausurnote. Schön muss es sein in den Bergen zu leben und zu malen. Sich ganz der Kunst und der Natur hinzugeben. Doch wovon lebten Künstler und Dichter damals? Von Gönnern? Neumodisch würde man das „Sugar Daddy“ nennen - der gegenseitige Tausch einer exklusiven Beziehung gegen finanzielle Freiheit, in kompletter Abhängigkeit. Doch einfach nur in die Berge schauen und malen, ist einfach nicht drin, denn vergiss nie:

Dein „nine to five“ ist das passive Einkommen eines anderen.

Unabhängigkeit, passive Einnahmen, Berge, Sport, Kunst - kurzum Privatier, das wäre doch ein hehres Ziel. Man darf ja wohl noch träumen…

In diesen Träumen laufe ich weiter vorbei an Villen über saftiggrüne Wiesen. Die Sonne brennt sommerlich warm hinunter auf meine Haut. Ein warmer Wind umspielt sanft mein Gesicht. Ich freue mich über so viel Achtsamkeit für den Moment.

Der Weg ist vergleichsweise einfach. Ich folge Straßen und Fahrwegen Richtung Bischofswiesen. Das Klocken der Stöcke bestimmt den Takt. Ich schlurfe dahin, trödle, träume. Hier und da bleibe ich stehen und versuche schöne Bilder zu machen. Ich erinnere mich an die Tipps von meiner ehemaligen Mitarbeiterin, deren Bilder ich gigantisch finde und an die Handyfototipps von Willi, meiner Begegnung des vorletzten Tages. Überall am Wegesrand wachsen bunte Blumen. Noch nie habe ich mich dafür interessiert. Ich bin eher Typ „tote Blume“, zu einem schönen stimmigen Strauß gebunden. Ich stolpere über die Beobachtung meiner selbst: mein Kopf muss gigantisch leer und frei sein, dass ich sogar Blumen wahrnehme und ich mich in deren Fotografieren verliere.

Eine klassische Woche 3- Beobachtung schon an Tag vier. Mir geht es heute hier wahnsinnig gut und alle, die mich gut kennen, wissen, dass das keine Selbstverständlichkeit ist.

Erinnerungen an das gestrige Telefonat beschäftigen mich. Es ist schon seltsam, dass man sich fast verteidigen muss, alleine im Urlaub zu sein. Manchmal kam ich mir bemitleidet vor, dabei kann ich dieses Gefühl nur zurückgeben an alle die, die das noch nicht entdeckt haben. Denn allein reisen, vor allem in dieser Stille und Langsamkeit, ist erfüllend und absolut bereichernd. Nur wer alleine glücklich sein kann, kann das auch zu zweit ohne den Partner als „Wirtstier“ zu nutzen. Sowohl der Anrufer, als auch ich können Urlaub alleine sehr empfehlen und möchten diesen nie mehr aus der Urlaubsjahresplanung streichen.

So laufe ich weiter über Wiesen und Felder, vorbei an alten Bauernhäusern und tollen Gärten. Als ich zwei alte Damen mit Gehstock und Rolator überhole, ertappe ich mich dabei, wie ich mich über mein erstes Überholmanöver freue. Irgendwann in totaler innerer Leere und Glückseeligkeit lege ich mich für eine Pause in die Wiese und schaue den wenigen Wolken beim Vorbeiziehen zu. Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren - außer, dass ich sehr spät dran bin, aber das bin ich ja immer…

Ich genieße auf der Kastensteinerwandalm das erste alkoholfreie Weißbier des Tages, lasse den Blick über das Bischofswiesener Tal schweifen, genieße (ganz im Gegensatz zu Tag 1) nur das Hier und Jetzt.

Weiter gehts durch den Wald. Ein kurzer Anruf erreicht mich und leitet die Stimmungswende des Tages ein. Wo ich sei und ich könne ja den Bus nehmen. (es ist ca. 14:00 Uhr und ich habe noch 3h vor mir). Ich ärgere mich, denn ich hatte mich doch heute so positiv verloren im Trödeln. Dann müsste ich mit jemand anders telefonieren, erwidert der Anrufer. Ich stimme ihm zu, beende das Telefonat und versuche zur Ursprungsstimmung zurückzukehren. Es wird mir heute nicht mehr gelingen.

Das Leben ist wie ein Zug. Menschen steigen ein, begleiten einen, steigen wieder aus. Einige bleiben die ganze Zugfahrt sitzen. Das können enge, aber auch flüchtige Kontakte sein, die im Gespräch spannend und impulsgebend erscheinen. Und dann gibt es die, die sich im Zug geirrt haben, nie einsteigen wollten, sich wieder verabschieden und den Weg zurück suchen. Ein solcher (flüchtiger) Passagier hat sich heute verabschiedet. Ein Ereignis, das völlig in Ordnung und gut ist. Jeder soll sich wohl fühlen, sich treu bleiben, seine Ziele verfolgen. Alles Gute auf deinem Weg!

Völlig erschöpft von einer eigentlich sportlich wenig herausfordern Etappe komme ich im Hotel an, genieße die Aussicht aus der Dachterrassensauna und lasse bei einem Welcome-Prosecco den Tag ausklingen.