Tag 4: Ansbacher Hütte - Memminger Hütte
Ich lehne an der Grießscharte auf meinem Sitzkissen sitzend an meinem Rucksack, die Füße nach Nord und Süd ausgestreckt, das Gesicht zur Sonne und genieße die Menschenleere dieser Etappe. Im geistigen Nirvana folgt mein Blick dem grasenden Steinbock. Schmetterlinge und Bienen sausen und summen um die Wette. Um mich herum ein Meer aus Gipfeln, ein Meer aus Leere, ein Meer aus Wärme und Stille. Ich habe hier alles, was ich gerade brauche: Nichts - und zwar ganz viel davon.
In weiter Ferne erkenne ich die Memminger Hütte. Entgegen aller Beschreibungen liegt sie friedlich ruhend da, auf einem letzten Stückchen Talsohle vor den Geröll- und Gesteinswänden der Lechtaler Alpen. Ein „Hauptbahnhof“ sei die Hütte. Hier kreuzen sämtliche Nord-Süd und West-Ostrouten: der E4, E5, der Adlerweg, der Nordalpenweg und der Lechtaler Höhenweg. Besonders vor dem E5-Publikum graut es mir. Es ist der Klassiker und die Einsteiger-Alpenüberquerung, die so viele einmal gelaufen sein wollen. Ich habe sie bisher gemieden. Und dennoch bin ich dankbar, dass es Menschen gibt, die sie laufen. Denn ohne die schönen Bilder meiner Kollegin Janina wäre ich vielleicht nie zum Wandern gekommen.
Es ist 12Uhr. Ich habe bereits eine gute Stunde verloren. Zum einen sind die Zeiten in den Lechtaler Alpen sehr sportlich gerechnet, zum anderen merke ich meinen prüfenden Tritt, um ja nicht nochmal abzurutschen. Ich beginne mit dem Abstieg. Eine Steilsicherung führt mich das rutschige plattenartige Gestein herab. Die zwei Herren, denen ich das Steilstück folgen wollte, sind schnell in weiter Ferne. Ich prüfe weiterhin jeden Schritt, gefühlt eiere ich hinab. Eine„neutrale Skiposition“ bräuchte ich… Ich kann mir vorstellen, meine Muskulatur mit einer recht geraden Beinposition zu schonen (siehe Sonnenskifahrer) und somit die Rutscherei zu fördern. Stunden vergehen bis ich in besserem Terrain bin. Inzwischen ist es 14:00Uhr und ein entgegenkommende englisches Pärchen ruft noch weiter vier Stunden zur Hütte aus. Da hinten, weit oben, auf der anderen Hangseite liegt sie. Ich ersehne mir eine überdimensionale Hängebrücke, um die Höhe zu halten.
Und da ist er: der klassische Kampf aus „hör auf dich“ und „reiß dich zam“. Eine Antwort auf diesen Zielkonflikt habe ich grundsätzlich im Leben noch nicht gefunden. Einerseits pushen Situationen wie diese mich raus aus der Komfortzone und umgekommen bin ich vom Durchbeißen noch nie. Und andererseits gibt es diese leise Stimme in mir, die sagt: Nela, du bist müde. Warum liegst du eigentlich nicht mit einem Apérol Spritz auf einer Liege am Strand? Hör auf dich!
Hier stellt sich die Frage nicht, mangels Alternative. Ich muss durch. Es gibt kein kürzeres Ziel auf der Karte.
Weiter gehts hinab in das schmale Zwischental, das es mit einer überdimensionalen Hängebrücke zu überbauen gilt. Ein unrund gehender Herr mit grünem Rucksack hat stets dieselbe Geschwindigkeit. Ich folge ihm. Der Weg schlängelt sich durch den Wald, wird matschig. Um meinen Geist von den Erschöpfungsgedanken abzulenken, versuche ich ihn zu füttern. Mangels Empfang müssen die wenigen heruntergeladenen Folgen Fast & Curious Podcast herhalten. Zu meiner Unterhaltung bleibt mir zufällig nichts als die Wahlarena von Februar, in der jeder Spitzenkandidat eine Folge füllt. Vielleicht auch ganz spannend deren Aussagen nach einem halben Jahr mit der Realität abzugleichen… Friedrich Merz begleitet meinen Abstieg. Wenig Neues, denke ich mir.
Schließlich erreiche ich den Herrn mit dem grünen Rucksack am tiefsten Punkt des Tages am Bach sitzen. Ich frage ihn, ob wir zusammen die letzten zwei Stunden laufen möchten. Doch er hat sich verletzt (und war dabei genauso schnell, wie ich unverletzt) und steigt ins Tal ab. Schade, denn statt diesem zugegeben langweiligen Vorarlberger, ziehe ich mir passenderweise am widerlichsten Gegenanstieg Olaf Scholz und Robert Habeck rein. Ich höre nur noch „Mittel bereitstellen“, „Mittel bereitstellen“ und „Mittel bereitstellen“. Ich würd mir jetzt total gern ein Bier bereitstellen, lieber Herr Habeck. Vom Digitalministerium über 100 zusätzliche Digital-Stellen in der Bundesnetzagentur über eine Deutschland-App bis hin zur Regulatorik der KI, habe ich nun die volle Dröhnung Digitalisierung von Nicht-Digitalisierern gehört. Und jetzt, nach den schier endlosen Serpentinen, gönne ich mir den krönenden Abschluss dieses so zähen Aufstieges: Christian Lindner. Wann kommt denn endlich diese Memminger Hütte, frage ich mich. Das „Mittel bereitstellen“ wird zu Private Equity und 75 Mrd. über ein potentielles Wirtschaftswachstum. Ansonsten wollen doch alle harmonisch Bürokratie abbauen (außer in der KI-Regulatorik, da muss man natürlich erstmal neue schaffen), alle mehr Datennutzung ermöglichen, alle Bildung und Betreuung fördern, alle finden Start-Ups super wichtig, am Ende wünschen sich alle Frieden. Amen.
Und jetzt bin ich auch oben angekommen auf Gleis 9 3/4, dem Hauptbahnhof der Lechtaler Alpen: der Memminger Hütte. Danke Fast&Curious, ihr habt mich - trotz mühsamer Kost - durchgetragen.
Die Hütte erfüllt meine Befürchtungen, wenngleich sie super schön liegt und die letzten Sonnenstrahlen sie in warmes Licht taucht. Es ist voll, laut, wuselig. Entweder man hat als Gruppe die gleichen Rucksäcke „Alpinschule Obersdorf“ wie eine Kindergartengruppe oder man trägt die Ballermannshirts des Vorjahres. Ein Ballermannjunge bietet mir einen „echt guten Vodka“ an. „Kirgisischer Vodka, nur 4€ die Flasche aber geil. So gut, dass ich einem Freund erzählt hab, wie gut er ist, und selbst vergessen hab, wie gut er wirklich ist.“ Herr, lass Hirn regnen. Ich nehme die Einladung dennoch an, schließlich haben die Jungs die gute Flasche mit hochgetragen, und zerstöre auch ein paar wertvoller Gehirnzellen.
Am Abend bekomme ich einen Platz in einem 70-Mann Lager zugewiesen. Neben mir liegt schon ein besonderes hübscher Schlüpfer, der auf einen Schnarcher, männlich, im Rentenalter schließen lässt. Na servus…
Als er erscheint, schaue ich ihn wohl derart böse an, dass er sich freiwillig ein anderes Bett sucht. In diesem Sinne - Gute Nacht.