Tag 3: Gipfelglück
6:00 Uhr gibt’s Frühstück. Ich liebe es. Das ganze Lager wird ab 5:30Uhr unruhig. Grummelnd drehe ich mich um und schlafe weiter. Immerhin durchgeschlafen habe ich, wenngleich meine Traumwelt wieder für viele Fernsehfilme der Woche reichen würden. Auf den letzten Drücker gehe ich in die Stube: Der kleine Feldmarshall von Jungwirt knallt mir zwei Scheiben Brot auf den Teller. Ein Wenig erinnert er mich an meinen früheren Kollegen, der das Toxische meiner Arbeit maßgeblich geprägt hatte. Er ist 13, gaaaaaanz wichtig, ohne ihn würde die Hütte natürlich niemals überleben und sein Besserwissen und Maßregeln sind unübertroffen. Ein wenig Wärme und Stil würden ihm nicht schaden. Vielleicht kann man es ein wenig vergleichen mit jemandem, der nur einen Löffel mit der Faust greift, von dem man erwarten würde, vernünftig mit Messer und Gabel zu essen. Die Mädls hingegen sind unglaublich höflich und zuvorkommend.
Dieses Jahr habe ich mir weniger vorgenommen, wobei das Wort „weniger“ stark aus meiner leistungsorientierten Erziehung geprägt ist. Ich würde diese Bewertung in viel/ wenig, gut/schlecht gerne aus meiner Freizeit streichen. Während ich im Arbeitskontext (darunter zähle ich auch Sanierungsmaßnahmen) gerne ein noch zielorientierteres, leistungsgetriebeneres Umfeld bei gleichzeitiger menschlicher Rücksichtnahme und Wärme hätte, wünsche ich mir in meiner Freizeit einen Wandel, weg vom Leisten hin zum Genießen. Der eigene Energiehaushalt spielt dabei eine große Rolle. Ich möchte in Zukunft den Tag so angehen, dass er mir das Maximum an Energie-Recharge bringt, egal wie das erreicht wird. Früher habe ich einen Rother-Wanderführer in die Hand genommen wie ein Lean-Experte. Ich optimierte die Etappen derart, dass ich den maximalen Weg in der minimalen Zeit lief. Müde und erschöpft stolperte ich abends in die Hütten, gerade rechtzeitig fürs Abendessen. Ich erholte mich dennoch, denn mein Definition von „Erholung“ war das „Abarbeiten“ von möglichst vielen Freizeitaktivitäten. Und ebenso befriedigend, wie in dem Wegstreichen von To-Dos auf einer Liste, machte mich das Erreichte stolz und glücklich. Verurteilen möchte ich es dennoch nicht, denn in Kombination mit meiner Neugierde, die ich durchaus positiv bewerte, machte ich unglaublich viele Kurse, probierte viel aus, wuchs daran und entdeckte wahnsinnig viel Neues.
Dieses Jahr, in dem ich mich (ungeplant) komplett neu ausrichte, soll das Wandern nun anders ablaufen. Ich wählte zwischen dem Tiroler Höhenweg und dem Lechtaler Höhenweg letzteren, da die Etappen deutlich kürzer waren. Zudem ist bei jeder Etappe das Absteigen ins Tal und eine schnelle Heimkehr nach Hause möglich. Ich möchte auf mich und meinen Körper hören, was gerade nach dem jähen Aufschlag Mitte des Jahres dringend nötig war. Kurz ertappe ich mich bei der Vorplanung den spontanen Impuls folgen möchte, und die Etappen bereits im Kopf verdichte. Gar nicht so einfach ist es, den gewohnten Handlungsmustern zu entkommen. Ich wehre mich gegen jene Denkstruktur und plane den längstmöglichen Weg. Um der neuen Zeit noch ein wenig Nachdruck zu verleihen, baue ich noch zwei „überflüssige“, dh. ergebnislose Tage ein, indem ich je zwei Nächte auf der Leutkircher Hütte und der Seesteinhütte bleibe. Gestern Abend wurde ich ganz nervös, bei dem Gedanken, heute einfach zu bleiben. Mein Gewissen plagte sich fast, als ich bei jeder Frage von Mitwanderern, wo es denn morgen hinging, antwortete: ich bleibe, denn ich möchte mal bewusst auf der Hütte Zeit verbringen, es sei ja schließlich auch Urlaub.
Heute war er also, der Tag, der so gänzlich außerhalb meiner Komfortzone lag.
Wieder starte ich mit einer kurzen Meditation in den Tag. Eine Weile sitze ich noch und lasse den Blick von Berg zu Berg schweifen. Als ich mich kraftvoll genug fühle, starte ich meine heutige Tour. Ganz nah in Sichtweite ist der Gipfel des Hirschpleiskopfes. Die Aussicht soll toll sein, wenngleich der dahinterliegende Stanskogel noch mehr angepriesen wurde. Da dieser schon wieder zu viel Arbeit bedeutet und ich doch in der Freizeit „santeln“ (lernen) möchte. Hinter der Hütte steige ich auf. Eingetrampelte Wiesenwege schlängeln sich Richtung Berg. Irgendwann erreiche ich eine Abzweigung. Rechts geht‘s zum Kaiserjochhaus, meinem morgigen Ziel, links zum Gipfel.
Strahlend kommt mir die Hüttenwirtin entgegen. Am Morgen hier hinaufzusteigen sei der schönste Moment des Tages. Zwei Monate habe die Hütte im Jahr offen, die Arbeit sei ein Knochenjob und super erfüllend zugleich. Den Rest des Jahres sei sie selbstständige Psychologin im Tal. Beides könne sie nicht Vollzeit machen, aber die Kombination erfülle sie. Und so eine perfekte Kombination könne man nicht erzwingen, sie komme, wenn es soweit ist. Sie habe irgendwann mit ihrem Mann den Entschluss gefasst eine Hütte zu pachten, wenn eine schöne frei würde. Schon sechs Wochen danach war genau die nächste zu ihrem Wohnort ausgeschrieben. Manchmal solle es wohl so sein. Sie macht Werbung mal ein paar Wochen auf ihrer Hütte zu bedienen. Mein Arbeitgeber habe da sicher etwas dagegen erwidere ich schmunzelnd, aber freue mich, dass ich wohl als geeignet beurteilt werde. Mehr Wärme als der kleine Mister Oberschlau, der einem immer die Getränke hinknallt, hätte ich bestimmt.
Ich folge weiter dem Pfad, der sich nun in wenigen Serpentinen zum Gipfel schlängelt. Das große hölzerne Gipfelkreuz ist zu allen Seiten mit Stahlseilen gegen den Wind gesichert. Die Sonne brennt mir frühlingshaft ins Gesicht, doch eine kühle Brise frischt immer wieder auf. Wieder bin ich gänzlich alleine. Auf meinem neuen rosa Sitzkissen mache ich es mir gemütlich und lasse den Blick schweifen. Ich blicke hinüber Richtig Skigebiet Arlberg. Erinnerungen an ein wunderbares Wochenende mit meiner Freundin Madga werden wach. Ca. 12 Jahre muss das her sein, als wir im Schneesturm die Pulverschneehänge von St. Anton unsicher machten. Zum ersten Mal war ich damals mit Piepser und Lawinenschaufel unterwegs. Meine Freundin hatte die ganze Saison in Warth als Skilehrerin gearbeitet. Ihre Stärken langen im Gelände, meine auf der Piste. Dennoch werde ich die erste Fahrt auf diesem Pulverschneehang nie vergessen, denn ich kam derart in einen Flow, wie ich es selten erlebte. Der Inbegriff von Glück wurde für mich diese Abfahrt, im Nebel und kühlen Schneesturm. Wie unterschiedlich solche Begriffe doch für jeden sind. Und während ich in meinen Gedanken Magdas Spuren folge, meldet sie sich, ob wir nicht mal wieder ein Wochenende zusammen verbringen möchten. Manchmal soll es so sein…
Inspiriert von meinem Yogakurs Anfang August, nutze ich die Stille dieses kraftvollen Ortes für eine weitere Meditation. Spotify Download macht es möglich auditiv begleitet zu werden. Ich beobachte, wie meine Gedanken wandern - Herrgott, warum blubbert es da so viel? - und versuche immer wieder mich auf die Atmung zu fokussieren. Ein - die kühle, klare Bergluft lässt die Nase innen erfrieren - Aus - gewärmt und sanfter findet sie ihren Weg wieder nach draußen. Mein Rücken ist ganz gerade, mein Kopf streckt sich gen Himmel. Die Bauchdecke hebt und senkt sich langsam. Ein - Herrgott meinem Hirn fällt schon wieder so viel ein - Fokus jetzt - Aus - ich lasse die Gedanken wieder los - Ein - Ja die Gedanken dürfen da sein, aber so viele? - Aus - Egal, wieder loszulassen…. So vergehen 20min und das Blubbern meines Hirns lässt langsam nach. Durch die bewusste Atmung fühle ich mich ganz verbunden mit meinem Körper und diesem Ort hier. Alles im Außen verliert sich…
Ich bleibe noch eine Weile sitzen, schaue hinab auf die Hütte, beobachte die Umgebung und gebe dem guten Gefühl Raum.
Es kommt mir vor, als hätte ich das sogenannte „Tal der Tränen“ endlich durchschritten.
Im Change Management und in Trauerprozessen folgen die Phasen, die man durchlebt, einer speziellen Kurve:
Nach einem Schock, folgt Widerstand, man kämpft und verliert unglaublich viel Energie, bis man irgendwann nicht mehr kann und rational eine Entscheidung trifft. Doch die Emotion hängt nach. Es folgt ein energieloses "Tal der Tränen" (das sich übrigens auch in der Produktentwicklung so nennt. Alle Innovationen laufen auch durch diese Phasen).
Ich wollte nicht wahrhaben, wie wenig ich das Unternehmen, in dem ich groß geworden war, wiedererkannte. Ich lehnte all das Toxische ab und versuchte einen Schutzschirm über meinem Team zu spannen, um eine „happy Bubble“, wie ich es immer nenne, zu kreieren. Doch ich verlor Energie. Ich war „out of character“, wie es so schön neudeutsch heißt, weit außerhalb meines Kerns. Meine Entscheidung für eine berufliche Veränderung war im Kopf völlig klar und positiv. Ein guter Freund, CEO eines mittelständischen Windenergieunternehmens, machte mir Mut, denn er sah das Potential eine Geschäftsführung im Mittelstand zu übernehmen. Sein Einfluss und Mentoring prägte meinen inneren Entscheidungsprozess sehr. Die emotionale Wahrnehmung hing nach. Mein Kopf feierte bereits eine Party auf die neue Aufgabe, während mein Inneres noch Zeit für eine Trauerphase nach elf gemeinsamen Jahren einforderte. Dieser Gipfel hier, fühlt sich nach einem emotionalen Umkehrpunkt an, als hätte ich nun mit beiden Händen die Leiter hinaus aus dem Tal der Tränen fest gegriffen, bereit mich hochzuziehen in die Erprobungsphase hin zur Integration des neuen Normals ins Leben. Das ist auch das Schöne an unserem Körper und Hirn: es relativiert schnell. Trauer, Schmerz und unschöne Erfahrungen fühlen sich mit der Zeit neutral an. Die Zeit heilt die Wunden.
Erfüllt von dieser Energie der Gipfelruhe steige ich ab. Die Hütte immer im Blick bin ich nach einer halben Stunde wieder unten. Palettenmöbel mit dick gepolsterten Sitzauflagen laden zum Verweilen ein. Ich lege mich hin und schlafe ein…
Den Nachmittag verbringe ich damit, meine Gedanken der letzten Wochen zu formulieren. Mein türkises Notizbuch begleitet mich schon ein paar Jahre und beinhaltet die wesentlichen Erkenntnisse aus Coaching und Wanderungen. Ich lese meine Vorjahresnotizen des Maximilianswegs, meine Gedanken und Vorsätze. Überrascht kann ich einige negativen Themen abhaken, die dieses Jahr keine Bedeutung mehr hatten. Viele Vorhaben haben sich positiv verändert.
Ich schlage eine neue Seite auf und notiere einige Stichpunkte für die neue Stelle und mein neues berufliches Jahrzehnt. Diese Gedanken werden sicher noch im Laufe der Reise angereichert.
Den Rest des Tages schlafe und schreibe ich auf dem Polster in der strahlenden Sonne dieses Sommertages. St. Bartholomäus sei heute, lerne ich. Es sei der Tag, an dem der erste Schnee käme. Die Wettervorhersage ist wirklich nicht prickelnd, aber 8-9 Grad werden morgen immerhin erreicht.
Abends sitze ich in der Ecke der Stube bei zwei - drei Radler in der Ecke der Stube. Eigentlich genieße ich die Zeit für mich und schreibe… doch irgendwann verwickeln mich meine Sitznachbarn ins Gespräch. Sie hätten heute den hier arbeitenden Nepalesen namens Supen besucht, der während zweier Reisen in Nepal ihr Bergführer war. Supen ist ein strahlender glücklich erscheinender Mensch mit einem erstaunlich guten Deutsch, dafür dass er erst ein paar Wochen hier arbeitet. Ein paar ältere Männer vom Nachbartisch gesellen sich auch dazu und Supen erzählt vom Wandern im Himalaya, zeigt Bilder vom Annapurna Trail, vom Mount Everest Basislager, von weißen sonnenbeschienen Sechstausendern, während im Tal schon Dämmerung ist. Die Scherpa seien eine kleine Community, man kennt sich und wiederkehrende Wanderer würden freudig begrüßt, wenn man ihnen Jahre später begegnet. Er empfiehlt im Oktober zu kommen und mit 3000-4000er Bergen zu starten. Genug Zeit zur Akklimatisierung solle man mitbringen, denn die Höhenkrankheit sei wahnsinnig unangenehm. Ich speichere mir seine Nummer und gehe beflügelt von diesen unerwarteten Impulsen ins Bett…
Schuster, T., Kohorst, J. & Hassan, A. Change Management: So gelingt der Wandel. Pflegez70, 10–13 (2017). https://doi.org/10.1007/s41906-017-0195-9