Tag 20: Tesserete - Morcote
Es ist, wie wenn man bei einer Party den perfekten Moment verpasst hat zu gehen. Der gestrige Tag in der strahlenden, warmen Frühlingssonne, schien bezogen auf den Wanderweg, die Ausblicke, die Gemütslage, die Unterkunft und das Abendessen perfekt gewesen zu sein.
Diese Wahrnehmung kenne ich sowohl vom Wandern als auch vom Nähen. Als ich beim „Traumpfad München - Venedig“ mit den Füßen im Wasser am Lido di Jesolo stand, erschien mir der Weg nach Venedig überflüssig, wenig reizvoll und hatte als Ziel an Spannung verloren. Im Kontext des Nähens gleicht der heutige Tag dem Moment, wenn am Dirndl alles fertig genäht ist, die Säume gesäumt, die Nahtzugaben versäubert, wenn das Endergebnis sichtbar und zufriedenstellend ist, wenn der erste Sekt geflossen ist und lediglich die Knöpfe noch angenäht werden müssen.
So liegt er vor mir, der Luganersee, wie die Knöpfe des Dirndls, und möchte auch noch die volle Aufmerksamkeit, obwohl in diesem Moment schon klar ist, dass der Weg geschafft sein wird. Durch Waldwege hindurch nähere ich mich Lugano. Eine Grundschulklasse sammelt vergnügt mit Handschuhen und Tüten ausgestattet Müll im Wald. In Lugano angekommen endet der Weg in der App und ich laufe nach Himmelsrichtung in die Stadt hinein. Wie auch in Bern fehlt in der Tourenbeschreibung die Durchquerung der Stadt, was mich bei der hügeligen Beschaffenheit Luganos gute zwei Stunden kostet. Am anderen Ende der Stadt wartet eine Standseilbahn darauf Touristen wie mich auf Luganos Zuckerhut Monte San Salvatore zu bringen. Ich freue mich über die Abwechslung und die technische Unterstützung bei der Bewältigung der Zwischenhöhenmeter, bevor ich meinen Tag wieder auf Seehöhe beenden werde. Auf dem Gipfel sind Stadt und See, die schweizer Alpen und in weiter Ferne die Po-Ebene erkennbar. Von dort aus führt der Wanderweg immer abwärts über schmale Waldpfade. Hier und da durchquert er hübsche Wohngebiete mit grandiosem See- und Bergblick, bevor er weiter auf dem Rücken der Halbinsel den Wäldern folgt. „Willkommen in Italien“ begrüßt mich mein Telefonanbieter. Ich muss der Grenze und somit dem Ziel ganz nah sein.
In Alpe Vicania wartet ein Restaurant auf einer Wiesenlandschaft auf die Wiedereröffnung und auf zahlreiche Familienfeiern. Von dort geht der Weg in steinerne Treppen über. Fast 400 Höhenmeter müssen in ca. 30min steil abgestiegen werden. Das Dorf Morcote im Blick beschleunige ich meine Schritte und laufe zeitweise mit vorbeikommenden Joggern mit. Erstaunlicherweise nehme ich das Gewicht meines Rucksacks kaum noch wahr. Stufe um Stufe springe ich ins Tal. Ein kleines italienisch anmutendes Steindorf, mit Kopfsteinpflaster, vielen Treppen und Terrassen, bunten Gärten mit Palmen und Springbrunnen am Ufer des Luganer Sees erwartet mich. Es ist die Südspitze der Halbinsel. Auf der anderen Seite liegen schon die malerischen Dörfer Italiens.
In mir macht sich das Gefühl des Angekommen Seins breit, obwohl mich der offizielle Trans Swiss Trail noch vier Stunden nach Mendrisio bringen würde, um dort den Zug zu nehmen. Hier am Fuße des Berges, am Ufer des Sees, zwischen Palmen bei erstaunlich trockenem Wetter werde ich die Reise ausklingen lassen und morgen von hier aus heimfahren. Es ist ein passender Abschluss dieser langen, einsamen Wanderung.
Auf der Terrasse genieße ich, eingehüllt in eine große Fleecedecke, unter einem Heizstrahler sitzend den letzten Abend bei einem Tessiner Risotto und einem Glas Wein.