Tag 2: Zeppezauer Haus - Berchtesgaden

Begegnungen

Gestern Abend sitze ich in der übervollen Stube des Zeppezauer Hauses. Die Tischkarten sind fix zugeteilt. Bei mir sitzt eine junge, sehr tough wirkende Staatsanwältin aus Leipzig. Sie ist, wie ich, alleine unterwegs. Wir frieren und bestellen einen Tee nach dem anderen. Wir ratschen über Leipzig, über das Rooftop Yoga auf den Höfen am Brühl, das ich erst letzte Woche in Leipzig entdeckt und lieben gelernt hatte. Ich lausche gebannt als sie von Delikten an der Leipziger Energiebörse berichtet. Das Gespräch ist spannend und für mich ein Beweis, warum alleine wandern so schön ist. Man ist offener für all die tollen Begegnungen, die der Weg zu bieten hat. Seit ihr Vater verstorben ist, träume sie davon von München nach Venedig zu laufen. Die aktuelle Mehrtagestour sei ein Testballon. Ich berichte von der Wanderung, die ich 2019 gemacht habe, teile Schwierigkeiten, Tipps und Tricks und Möglichkeiten zur Verkürzung. Vor allem versuche ich Mut zu machen. Liebe Sabrina, du schaffst das. Du hast so viel Biss und Durchhaltevermögen. Ich bin mir sicher, du meisterst das! Und wenn wir uns ggf. in Leipzig mal beim Yoga treffen freue ich mich auf deinen Bericht, voller Stolz mit leuchtenden Augen.

Wir werden unterbrochen. Eine sehr einnehmende Dame mischt sich ein und erzählt uns ihre Lebensgeschichte. Sie sei aus Graz, aber sie wolle mit der Tour ihren Partner (auch dabei, schweigend, genervt) zum Wandern und zum Umzug nach Salzburg bewegen. Er entgegnet trocken, sie sei ja mit der Bahn hochgefahren, während er gelaufen sei. Wir bekommen alle Details über Grazer und Salzburger Schickeria erklärt „und weißt du die, das ist doch die Frau von dem, ach das weißt du nicht?“. Wann atmet diese Dame. Sie erzählt vom Stanglwirt (ja den kenne sogar ich, weil ich dort in der Busleitung in der Skischule mit ca. 19 Jahren am Berg hängen geblieben bin und der legendäre Busfahrer Mehmet und ich mit Matten den Bus haben versucht von der Stelle zu bekommen, während 50 Zwergel im Bus darauf gewartet haben mit Tante Nela endlich weiter Shitparade zu spielen oder das Fliegerlied zu tanzen). Es gäbe dort einen Trakt für Promis und eine Reithalle für „Normalos“, in welcher Tickets bis zu tausend Euro kosten, um sich dann 2. Klasse zu fühlen. Aber sie würde trotzdem dort hinfahren… ihr Partner verhält sich seltsam leise. Auch wir sind verstummt. Ich suche wieder die Stille und ziehe mich zurück, bevor das Gequake zum Frühstück wieder los geht. Ich bin gottfroh als ich mich in der Früh aufmache Richtung Berchtesgaden.

Es ist nebelig und dampfig. Eine Horde Touristen kommt mit aus der Seilbahn entgegen. Eine asiatische Familie singt laufend klassisch vierstimmig. Ein paar Russinnen mit unnatürlich operierter Oberweite und „Drama“- shirt eine Nummer zu klein, sind die nächste Begegnung. Ich muss hier weg. Es startet ein auf und ab über rutschige Steine, rollenden Kies und Schneefelder. Der Kamm zieht sich Stunden entlang, dadurch dass ich aufgrund des Schnees und der Nässe mich so konzentrieren muss. Die Zeit scheint nicht zu vergehen und ich scheine - gefühlt - nicht von der Stelle zu kommen.

Und just in dem Moment begegnet mir Willi auf einem riesen Schneefeld. Willi, ein Arbeitsmediziner aus dem Salzburger Land, ist unterwegs mit zwei Jungs um die 10 Jahre. Alois (Ali) ist seiner, Lutz ist „geliehen“. Beide rennen weit vor und wieder zurück, wie unbremsbare Hunde, die ihre Kräfte nicht einschätzen können. Wir laufen hintereinander und kommen ins Gespräch. Es geht um mentale Gesundheit, ein Thema das mir spätestens seit dem Burnout-bedingten Suizides eines Familienmitgliedes extrem wichtig ist. Ich wundere mich, dass Instandhaltung und Wartung von Maschinen einem bestimmten Rhythmus folgt, dass es hierfür gesonderte Produktionsunterbrechungen gibt. Doch für die „Instandhaltung“ der Menschen, gibt es diese viel zu wenig. „Du bist nur ein besseres Zahnrad“ entgegnet Willi und stimmt mir zu. Ihm gefällt der Vergleich. Pausen und Schulungen sind solche Produktionsunterbrechungen jedoch machen diese einen durch inhaltliches Lernen laut Willi zu einem aktuell leistungsstärkerem Zahnrad, an der Langlebigkeit wird aber nicht gearbeitet. Wir sprechen über individuelle Bedürfnisse an Pausen - Essen, Sport, Schlafen, Gespräche, Ruhe. Jeder Mensch erholt sich anders. Aber nicht alle Pausenbedürfnisse werden befriedigt. So kommen diejenigen, die bei Essen und Gesprächen ihre Batterien aufladen munter ins Büro zurück, während andere 30min Nickerchen bräuchten, um am Nachmittag Höchstleistung zu bringen. Sie kommen müde von weiteren Gesprächen  und verdauenden Kohlenhydraten aus der Kantine zurück. Es gibt einige Unternehmen, die bereits Ruheräume, Yoga und Bewegungsmöglichkeiten für die Pause anbieten. Meins gehört nicht dazu: aber ich wäre die erste, die in der Mittagspause 30min Siesta machen würde. In Willis Unternehmen nehmen immer „dieselben 4%“ Angebote zu mentaler Gesundheit an - die, die sich eh schon lange mit dem Thema beschäftigen. Alle anderen 96% würde man nie erreichen. Diese 4% hätten einen „Bildungsauftrag“….

So laufen wir ratschend und philosophierend die Schneefelder und Steine auf und ab bis wir zu viert schließlich den Berchtesgadener Hochthron erreichen. Wir machen einige Bilder und schicken sie den sich sorgenden Müttern.

Auf dem Stöhrhaus genießen wir ein kühles alkoholfreies Weißbier unf blicken auf das imposante Watzmanngebirge, während Willi die Legende vom Watzmann erzählt (doch dazu morgen mehr).

Das Wetter ist aufgerissen, die Sonne strahlt glitzernd warm auf uns hinab. Wir folgen dem Pfad hinab. Der Weg ist leichter geworden, ein schmaler Trampelpfad, unverblockt und ohne loses Gestein führt wieder ins Tal hinab. Dort, weit weit unter uns, liegt mein heutiges Tagesziel. Eine imposante Felswand bietet einen grandiosen Blick auf Gestein, Berg und saftig grünen Landschaften zugleich. Ein schmales Seil Materialseilbahn ist zu erkennen. „Da darfst mit dem Paraglidingschirm net einfädeln, sonst faltets di zam, du klatscht unten dagegen und du bist garantiert hi“ macht Willi Lust auf mehr. Die letzten gemeinsamen Meter erfahre ich alles über die Riesending-Schachthöhle, die mit ca. 24km Länge und 1200m Tiefe die größte bekannte Höhle ist und: sich genau unter uns befindet. Er habe mit seinen Jungs in eine kleinere geschaut, eine „Insiderstelle“. Über ein Unglück und die Bergung innerhalb der Höhle gäbe es einen Spielfilm, den er mir sehr an Herz legen könne.

Und so trennen sich unsere Wege. Ich bin dankbar für diese Impulse und die kurzweilige Wanderung. Wir werden uns zwar nie wieder begegnen, aber die Erinnerung an den Moment bleiben. Ich laufe hinab und folge dem schmalen Pfad entlang eines Bergrückens. Er geht in einen Waldweg über, dem ich Serpentine für Serpentine folge. Meine Füße werden langsam müde. Irgendwann erreiche ich die ersten Häuser. Ein Blick zurück zeigt ein malerisches Alpenpanorama. Ich bin zufrieden mit dem Tag und wahnsinnig froh als ich in Berchtesgaden schließlich auf einer Liege am Fluss die letzten Sonnenstrahlen einfange…