Tag 12: Schlanders - Martelltal

Auszug aus meiner Gedankenwelt:

Neulich hat mir jemand das Angekommensein angepriesen, ein sich weise fühlender Herr mittleren Alters, viel erreicht in seinem Leben, der aber über ein ebenso erfolgreich ausgeprägtes Schubladendenken verfügt, gerne wertet, urteilt und über andere schimpft. Er, der sich als das Nonplusultra zu fühlen scheint, aber den Eindruck eines inkongruenten Auftretens vermittelt, wird sich sicher freuen, dass er es heute auf die Agenda meiner Gedankenwelt geschafft hat (wenngleich er sich sicherlich einen anderen Kontext gewünscht hätte #nonplusultra). So sinniere ich über die aktuelle Weltlage, und ob ein Angekommensein überhaupt sinnhaft und erfolgsversprechend ist, in einer Welt, in der sich ständig alles ändert, Krisen auf Krisen folgen, Krankheiten und Kriege den Alltag bestimmen und Lieferketten zusammenbrechen. Ist es nicht viel besser immer wachsam zu sein, immer reaktionsfähig auf Veränderungen, immer absprungbereit für eine Kursänderung, wenn die Umgebung es zur Zielerreichung erfordert? Ich stelle mir denjenigen Herren in seinem angekommenen Zustand beim Skifahren vor: Sonnenskifahrer, Jacke halb offen, ein Weißbier getrunken und immer mit Gesicht zur Sonne, d.h. in voller Rücklage, unterwegs. Angekommen im Sonnengenuss, sich pudelwohl fühlend. Kommt eine unerwartete Bodenwelle, liegt er und alle ziehen an ihm vorbei. Dabei ist Leben und Arbeit mehr wie Skicross. Bodenwellen, Sprünge, Kicker, Gefahren/Hinternisse von oben/seitlich oder beim Sprung von unten gilt es perfekt abzufedern, zu umschiffen, zu überholen, und Chancen zu ergreifen, was nur in einer neutralen (immer reaktionsfähigen) Skiposition gelingt - etwa das Gegenteil von Angekommensein. Immer agil, immer wachsam, immer in Bewegung, immer reaktionsschnell, immer lernbereit und total fokussiert. „Was ist der nächste kleine Schritt?“ würde Julia Engelmann (Poetry Slamerin) fragen, der nächste kleine Schritt zum Ziel. Angekommen ist man, wenn das Leben vorbei ist, und man seine finale Endposition erreicht hat.

Warum beschäftigt mich das? Weil Bergsteigen Wachsamkeit erfordert, Voraussicht und Änderungsbereitschaft. Weil Angekommensein sich eher auf das Weißbier in der Stube der Hütte bezieht, als auf einen erstrebenswerten Zielzustand im täglichen Wanderalltag. So müssen wir heute, nach einem Blick in die Wettervorhersage, eine Einschätzung und Entscheidung hinsichtlich der Wegführung treffen. Es soll mittags gewittern, und wir werden nicht über den Bergrücken auf 2000m ins Martelltal wandern können. Wieder beschließen wir umzuplanen und nehmen schließlich den Waalweg über Morter nach Gand.


Wir starten durch typische Apfelplantagen des Vinschgau. Wir überqueren die Bahngleise und erreichen den Wald. Hier führt ein schmaler Pfad uns immer am Hang entlang. Ein schmaler Wasserkanal führt parallel zum Weg, der zur Bewässerung der niedriger gelegenen Ortschaften und landwirtschaftlichen Betriebe diente. Irgendwann biegen wir ins Martelltal ab und folgen einem reißenden Gebirgsbach. Holzbrücken führen und einige Male von der einen auf die andere Seite. Es ist dampfig heiß und die Bremsen haben großen Spaß daran uns zu stechen. Der Rücken seitlich des Rucksacks scheint es ihnen dabei besonders angetan zu haben. Am Wegesrand wachsen wilde Himbeeren. Gedankenversunken bleibe ich immer wieder stehen und pflücke ein paar. Nach einiger Zeit erreichen wir die „Südtiroler Erdbeerwelt“ (das Martelltal ist bekannt für seine Erdbeeren). Wir kehren kurz ein und genießen bei Milchshake und Eis die Sommersonne. Der „Erdbeerweg“ führt uns schließlich bis nach Gand unserem heutigen Ziel. Wir kommen in einem Gasthaus unter, dessen Hauptgeschäft die Unterbringung von Biathlonkadern zu sein scheint. Der ganze Hotelgang ist voller ausdampfender Schuhe. Alle Mädls unseres Nachbartisches sind in identischen DSV-Outfits gekleidet. Sie unterhalten sich über Ernährungspläne der TU München, während wir bei zwei Gläsern Rotwein den Tag ausklingen lassen.