Tag 18: Malga Spora - Lago di Molveno
Die Wirtin missachtet jeden nicht vollständigen Tisch beim Frühstück. Als die 5. Person unseres Nachbartisches endlich da ist, knallt sie lieblos Pappsemmeln und Kaffee hin. Die Marmeladenschälchen in Herzform sind das einzig Liebevolle dieser eigentlich so schönen Alm. Der Kaffee schmeckt grausam: eine Mischung aus Instantkaffee und Kaffeesatz. Hunger und Durst lassen uns keine Wahl.
Wir steigen auf. Ein schmaler Weg zwischen Latschenkiefern führt uns aus der Senke. Stück für Stück kommen wir dem Passo de Clamer näher. Oben angekommen überbietet das Panorama des gestrigen Tages. Die Brenta ist beeindruckend. Wir werden auf jeden Fall wiederkommen. Kurz freuen wir uns über Handyempfang, ein seltenes Ereignis in den letzten Tagen. Nach prüfenden Wischen links, rechts, oben, unten stellen wir fest, dass die Welt sich weitergedreht hat, wir aber nichts verpasst haben… und laufen weiter. Weit unter uns sehen wir ein holländisches Damenpärchen, das wir auf der Malga Spora kennengelernt haben, kämpfen. Sie rutschen auf allen Vieren den Weg hinab. Ein Blick nach rechts offenbart uns, was ein Schritt daneben für Folgen hätte. Mein Tatort-konditioniertes Hirn malt düstere finale Liegepositionen aus. „Da bist hi“ sagt Max etwas treffender.
Auch dieser Weg ist für Wanderer mit Kindern oder Höhenangst absolut ungeeignet. Auch im Regen und bei Müdigkeit endet er ziemlich sicher schwerverletzt oder tödlich.
Wir gehen 20m nach vorne bis Max auf dem ersten Stein (Gott sei Dank nicht an der Handkante) fällt und auf dem Po landet. Ich bin maximal sensibilisiert. Langsam und konzentriert stütze ich mich auf meinen Stöcken ab, prüfe jeden Schritt zweimal auf Trittsicherheit. Oft setze ich mich auf den Boden und rutsche zur nächsten sicheren Standposition. So rutsche und krabble ich hinab ins Tal. Eine Frechheit ist die gestrichelte Marketing in der Alpenvereinskarte. Ein paar Seilversicherungen hätte man hier schon spendieren können. Ich denke an denjenigen, der hier die Markierungen gemacht hat und die Rutschpartie mit zwei Farbeimern angetreten hat. Die Kleckse sehen allerdings ähnlich treffsicher aus. Eine Rutsche mit Klappe im Boden, die einen ins Tal schießt, wäre auch passend gewesen.
Unten angekommen überholen wir die erschöpften und erleichterten Mädls. Wieder folgt eine ähnliche Passage. Ich konzentriere mich, doch ich falle. Ich rutsche und rolle auf spitzen Felsen ca. ein, zwei Meter hinab. Die Tatortleiche bleibt mir erspart. Ein großes Pflaster an der rechten Hand und einige blaue Flecken später arbeite ich mich weiter hinab. Irgendwann erreichen wir ein trockenes Flussbett, laufen durch Serpentinen in Latschenkiefern, um schließlich in weiter Ferne den Lago di Molveno zu erblicken.
Das Rifugio Croz d‘Altissimo beendet jäh die Einsamkeit der letzten Tage. Hunderte Lifestylewanderer in instagramfähigen Bauchfreioutfits und einige Ebiker sind hier und stehen in langen Schlangen fürs Weißbier an oder bekriegen sich in der Toilettenschlange. Ein Dieselgenerator sorgt unterhalb der Hütte für genug Strom für das Laden Ebikes, sodass das grüne Gewissen nur bei genauem Hinschauen (eine Etage tiefer) gestört wird. Wem das Ebike zu anstrengend ist, der kann das Hüttentaxi vom See aus nehmen. Zwei alkoholfreie Weißbier später fliehen wir auf dem voll befestigten Fahrweg ins Tal. Der Kollege, der mir in Stams (Tag 4) Ungarn per Facetime gezeigt hat, meldet sich per Videoanruf und ratscht joggend, schnaufend und lachend mit mir, während in dessen Hintergrund der Strand Kretas zu sehen ist. Obwohl ich schon Stunden unterwegs bin, komme ich mir seltsam inaktiv vor. Telefonierend erreiche ich Molveno unser Alternativtagesziel. Ursprünglich wollten wir am Vortag bis zur Ebikehütte kommen, um dann noch zwei weitere Tage zwischen den hohen Gipfeln der Brenta zu verbringen. Durch die Warterei auf das Wolkenloch an der Malga Flavona am Vortag wurde daraus nichts. Doch alles Negative hat auch etwas Schönes und wir entdecken bei einem großen Eis den wunderbaren Bergsee Lago di Molveno. Klar und kalt liegt er zwischen den grünen Waldhängen. Im Hintergrund thronen die schroffen Gipfel der Brenta, sanft bezuckert von Wolkenschwaden. Das Baden ist eine Wonne und belohnt den mühsamen, aber landschaftlich unglaublichen Tag mit heilender Kühle.