Tag 17: Pürschlinghaus - Kenzenhütte
Claudias Glöckchen am Wanderschuh bimmeln wie Kuhglocken in meinem Ohr. Mehrere Tage läuft sie mit diesen nervtötenden Glöckchen am Schuh bis zu acht Stunden am Tag - denn sie hat Angst vor diesem einen Bären, der just in Reutte gesichtet wurde. Überall angerufen habe sie und fast hätte sie auch aus Angst ihren Kurztrip abgesagt. Aber mit dem Glöckchen fühle sie sich einigermaßen sicher. Und Wölfe solle es auch geben, ob da das Glöckchen helfe, sei unklar. Dass dieses Gebimmel auch auf einen aufmerksam machen kann - a la Pawlowscher Hund: „guck mal hier, hier ist die leckere Claudia“ - das kommt ihr nicht in den Sinn. Julius erklärt ihr, dass es anscheinend sinnvoller sei sich bei einer Begegnung totzustellen, der Bär dann ein bisschen mit einem spielt aber einen liegen lässt. Eigentlich ganz ähnlich wie mit dem Ex oder?
Ich starte auf den schmalen Pfad hinter dem Pürschlinghaus. Wirft man einen Blick hinter sich, so sieht man die jetzige DAV Hütte und eine etwas weiter oben liegende Hütte. Die obere war das frühere Jagdhaus des Königs, die DAV Hütte die Bedienstetenhütte. So richtig königlich hab ich auch nicht geschlafen… Ich folge schmalen Trampelpfaden am Hang entlang. Irgendwann stehe ich an einer Abzweigung: Gratwanderung rechts, Waldwanderung links. Gestern wurde mir beides wärmstens empfohlen. Ich entscheide mich für den weniger spektakulären Waldweg, da es noch etwas nass und rutschig ist. Serpentine für Serpentine geht es über Stock und Stein ins Tal hinab. Niemand ist hier unterwegs. Begleitet werde ich bei diesem Abstieg telefonisch von einem lieben Kollegen, der sich nach meinem Befinden erkundigt. Wir ratschen ein wenig und die Serpentinen kommen mir weniger vor. Ca. 700 Höhenmeter schlängeln sich nach unten.
Schließlich erreiche ich einen Fahrweg, den ich überquere. Waldarbeiter grüßen mich freundlich und ich tauche wieder in den lichten Mischwald ab… Ich nähere mich dem Schloss Linderhof, einem der Touristenhotspots Oberbayerns. Noch merke ich nichts und genieße die Idylle, bevor ich jäh auf dessen Parkplatz lande.
Hunderte Autos stehen hier, um das kleine aber feine Schloss zu besichtigen. Es hat baulich einige Besonderheiten zu bieten: es ist das einzige zu Lebzeiten König Ludwigs II fertiggestellte Schloss. Zudem handelt es sich widererwartend um eine verputze Holzbauweise, errichtet aus dem heimischen Forst. Geschmacklich kann man über die Venusgrotte streiten, die man im Garten des Schlosses findet, ingenieurstechnisch ist sie ein Vorreiterbauwerk der damaligen Zeit, denn sie enthält das erste Bayerische Kraftwerk und die erste elektrische Beleuchtung des Landes. Genie und Wahnsinn lag schon immer nah beieinander und oftmals sind die, die man als Wahnsinnige bezeichnet, die größten Förderer von Innovativen - siehe Elon Musk.
Ich erhoffe mir von der Schlosswirtschaft eine Schorle oder ein schönes alkoholfreies Weißbier, doch ich werde enttäuscht: sie hat geschlossen. Ich kaufe ein völlig überteuertes Eis im Souvenirshop und ziehe von Dannen. Ein paar Amerikaner werfen mir verwundete Blicke zu, nachdem einige Klamotten an meinem Rucksack zum Trocknen hängen. Ja, lieber Tourist, da verschluckst dich gleich an deinem Aperol Spritz um 12:00Uhr auf dem Bankerl vor der Kasse, weil du denkst, was läuft denn hier diese Irrsinnige mit einem herumbaumelnden Ortovox-Sport-BH rum. Ist halt so.
Ich verziehe mich wieder in den Wald hinein, dorthin, wo ich besser hinpasse. Ewig zieht sich der Weg am Fluss entlang in das verlassene Tal hinein. In der sengenden Hitze mache ich eine Pause - wie üblich auf der Straße auf dem Rucksack sitzend - und ein alter Herr kommt mit seinem verbeulten Auto vorbei: ob es mir nicht gut ginge, werde ich aus dem Fenster gefragt. Ich gebe Entwarnung. Tipp: sollte man jemals Hilfe brauchen, einfach auf den Rucksack setzen. Nie sind Menschen hilfsbereiter. Ich laufe weiter.
Mein Kopf beschäftigt sich mit einer Hausaufgabe, die ich im Coaching just für diese „Laborbedingungen“ (Verlassene Landschaft, keine Mitläufer) bekommen habe, um etwas zu durchdenken. Nach 1-2 Stunden biegen meine Gedanken ab und bleiben, warum auch immer, bei der Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan hängen. Der Mensch braucht drei Dinge, um glücklich zu sein: Autonomieerleben, Kompetenzerleben und soziale Eingebundenheit. Hier auf dem Höhepunkt meines Autonomieerlebens frage ich mich, ob die anderen beiden Felder einen ähnlichen Wert erreichen und finde im Feld Kompetenzerleben eine große Sehnsucht nach Kreativität und Kunst, die beruflich wenig Raum hat. So sinniere ich über neue künstlerische Projekte und nehme mir vor bis zu meiner nächsten großen Wanderung den privaten Fokus darauf zu legen. Ich hänge noch ein bisschen in meinen Gedanken fest, während der Weg enger und steiler wird. Er geht über in einen schmalen Waldpfad. Stück für Stück steige ich auf.
Irgendwann, außerhalb des Waldes, als mir die Sonne wieder ins Gesicht scheint, meldet sich mein Handy nach Stunden ohne Netz. Eine Halbzeitmeldung meiner Vertretung „Chefin, alles im Griff“ ploppt auf. Sagt man das nicht immer, um denjenigen beruhigt Urlaub machen zu lassen, frage ich mich grinsend. Ich sortiere kurz die Flut an Nachrichten und Anrufen der letzten Stunden und steige dann schnellen Schrittes die letzten Höhenmeter bis zum Bäckenalmsattel hinauf.
Von da ab geht es - netzfrei - durch Wiesen Richtung Kenzenhütte. Weit ist es nicht mehr. Ich beeile mich voller Vorfreude.
Schließlich lande ich auf der Terrasse einer der schönsten Hütten, die ich je gefunden habe. Mindestens 20 Liegestühle stehen in Richtung der Gipfel der Hochplatte und des Kenzenkopfs, wie die Stühle am Café Tambosi in München. Überall sind bunte Blumen und Dekoelemente. In der Ecke spielt jemand Gitarre und singt schwäbelnd niveaulos dazu „auf der Oiiiim da gibts koi Sünd…. und wer pimpert… kriegt koi Kind“.
Ich bestelle mir einen Hugo und sonne mich im Liegestuhl. Es ist herrlich…