Tag 10: Eggiwil - Schangnau
Kaum bin ich ein paar Meter aufgestiegen, macht der Himmel seine Schleusen auf und es schüttet wie aus Eimern. Dazu fängt es an böig kalt zu winden. Unter einen Baum, mehr schlecht als recht geschützt, ziehe ich mir meine Regenjacke und -hose an. Ich ziehe mir zwei Kapuzen über mein Cap und laufe weiter. Es ist, als wäre ich in einer Waschstraße gefangen.
Schnellen Schrittes hangle ich mich von gelber Wegmarkierung zu gelber Wegmarkierung. Es geht steil bergauf und die Schritte schmatzen laut im nassen Matsch.
Ich habe noch kein Ziel für heute. Keine Unterkunft hat auf meine Mails reagiert, niemand hat das Telefon abgenommen. Im schlimmsten Fall muss ich bis 21Uhr durchlaufen (Eine Etappe weiter gibt es ein Hotel) oder mich bei den Bauernhöfen durchfragen... Daher beeile ich mich heute.
Der Nebel hängt tief in den Tälern und der Himmel scheint die Wolkenfetzen wie ein Stückchen Zuckerwatte nach oben zu ziehen. Ausgerechnet heute steht eine Gratwanderung an. So bin ich dem peitschenden Wind und Regen von allen Seiten ausgesetzt...
Auch heute ist eine Panoramabank das Highlight des Weges. Auf dem Wachthubel angekommen, soll ich laut Wanderführer eine „atemberaubende Sicht auf die Voralpen-Bollwerke Schrattenflue und Hohgant haben. Die Realität sieht heute leider anders aus. Trotzdem habe ich gute Laune und mache ein Selfie mit der nicht vorhandenen Aussicht.
Immer wieder versuche ich Unterkünfte zu erreichen. Und irgendwann ploppt eine Mail in meinem Postfach auf. Ich nehme mein Handy aus der Schutztüte, trockne es erst einmal und lese, das Hotel Kämmerliboden Bad hätte zwar nichts frei, aber ich solle es doch einmal unter folgender Nummer probieren. Am Ende der Leitung ist der Gasthof Löwen in Schangnau, der zwar geschlossen hat, mich bei diesem Wetter aber aufnehmen wird...
Glücklich über die Aussicht in einer Stunde im Trockenen zu sein, laufe ich weiter. Ich beschließe ein Stückchen auf der Straße zu laufen, da das bei der Nässe für den Abstieg angenehmer ist. Trotzdem muss ich wieder einen steilen Pfad durch den Wald ins Tal absteigen, um das nächste Straßenstück nutzen zu können. Am frühen Nachmittag komme ich nass bis auf die Unterwäsche in Schangnau an...
Mein Zimmer ist einfach, aber mit viel Liebe eingerichtet. Geblümte Bettwäsche, ein Bild mit Schafen an der Wand, ein roter Sessel mit Norwegermusterkuscheldecke und eine alte, grüne Linoleumnasszelle. Ich stelle die Dusche so heiß ein, dass meine Haut die Temperatur vor Brennen kaum noch erfassen kann. In meinem ersten Referat in der 3. Klasse über Verbrühungen und Verbrennungen wäre meine heutige Duschzeremonie sicher ein gelungenes Beispiel gewesen. Im Anschluss mummel ich mich unter die gemusterten Decken und döse ein wenig.
Abends darf ich mit der Familie mitessen. Die beiden Besitzer tischen für sich, die beiden Bauern-Azubinen Milena und Ramona und mich auf. Als Nachspeise „muss“ ich Meringue essen, eine Art Riesen-Baiser mit einem Haufen Sahne außenrum. Währenddessen vermittelt mir Milena, ein Mädchen mit Undercut und Stanford-Pulli, all ihr gelerntes Wissen: von den vier Mägen der Schafe, bis hin zu gestenreichen Erklärungen, wie man ein Schaf zur Welt bringen muss. „Wenn sie Füße zuerst kommen, muss man schnell ziehen. Sonst stirbt es. Und ein Schaf ist ja teuer. Da kann man ja noch Fleisch draus machen.“ Ich erfahre, dass man in der Bauernberufsschule vor allen Dingen Lehrinhalte über Milchkühe und Schweine vermittelt bekommt, und gerade deswegen die Lehrstelle am Schafbauernhof so wertvoll ist. Dass die berufliche Perspektive entweder das Einheiraten oder eben eine Anstellung am Hof ist. Und schließlich finden wir ein Thema was uns beide fasziniert: die Digitalisierung der Milchkuhhaltung. Stunden sitzen wir noch in der Stube und vergessen die Zeit...
Viele Bauern würden nur noch auf ihre Apps schauen. Sensoren in Halsbändern überwachen die Gesundheitsdaten ähnlich einer Fitbit. Ein Knopf im Ohr ist wohl ein NFC-Tag, das Aufschluss über den Stammbaum und die bisherigen Aufenthaltsorte der Kuh gibt. Mit Melkrobotern kann ein Milchbauer alleine 100 statt 30-40 Kühe betreuen. Die Probleme aber kommen mir sehr bekannt vor. Wenn mal etwas defekt ist, kommt der Servicetechniker von weit her, dann müssen Ersatzteile bestellt werden und alles dauert ewig. Und „ein Bauer, der etwas an einem Arm hat, kann mit dem anderen immer noch Futter geben“, meint Milena...