Tag 1: Lechtaler Höhenweg 2.0 zur Frederick-Simms-Hütte.
Lieber Bergretter,
letztes Jahr hast du mich abgeholt mit dem Heli, in einem Jahr, in dem ich mich nicht wiedererkannt hab. Ein Jahr voller düsterer Gedanken und Erschöpfung bedingt durch ein super toxisches Miteinander im Job. Du hast mich ermahnt, du hast dir Sorgen gemacht, nicht wegen des kaputten Knies, sondern wegen der Arbeit. „Du musst etwas ändern“ hallen deine Worte in meinem Ohr.
Und während du im Urlaub bist, steige ich wieder auf jene Hütte auf, die letztes Jahr das Ende meines Lechtaler Höhenweges darstellte - jäh beendet durch ein Abrutschen, mehrfaches Überschlagen, Knieverletzung, Heliflug, der Rest ist Geschichte.
Heute bin ich wieder müde und erschöpft, aber anders müde. Umgeben von warmherzigen Menschen bin ich platt von neun Monaten aufräumen. Wie, wenn ich in eine überfüllte, unordentliche Wohnung gekommen wäre und binnen einen Jahres eine renovierte Bleibe erschaffen solle, dabei soll ich aber jederzeit darin wohnen. Bedingungslos sichten, bewerten, behalten, loslassen, neu erschaffen, in 1000 Themen beschreibe ich meist folgendermaßen:
Mein Job ist es, ein Bällebad ohne Zwischenwände nach Farben zu sortieren, aber irgendwer kippt immer nach. Dabei fühle ich mich, wie wenn 250 Personen an meiner Brust hängen und ich bin komplett Energie-entleert. Währenddessen soll ich die Frage „aber du bist doch glücklich?“ bitte jederzeit bejahen.
Dennoch sind alle super freundlich und es geht echt was voran. Ich bin müde, aber ich sehe Fortschritte und das trägt mich durch all die zähen Tage, die ich doch so oft erlebe. Trotzdem machst du dir, lieber Bergretter, Sorgen. Die werde ich nun mitnehmen und darüber nachdenken.
Deine Sorgen und meine Müdigkeit im Gepäck fahren wir los zurück ins Lechtal. Ich führe die letzten Arbeitstelefonate, doch das Netz hinter Oberau spielt einen Streich und beendet sie mahnend. Vorbei am Hotel Ammerwald (in der Hand meines ehemaligen Arbeitgebers) blitzen kurze Erinnerungen an Workshops in diesem Haus auf. Die Arbeitsgedanken lassen los und kurz vor dem Erreichen des Ziels schlafe ich auf dem Beifahrersitz tief und fest ein.
Mürrisch wehre ich mich gegen die Ankunft, packe meine Sachen und starte los. Begleitet werde ich die ersten Meter durch meinen Mann und unseren Hund Emil, der aufgeregt schnüffelt und hin und her rennt. Jeder Schritt fühlt sich schwer an, exakt das Gegenteil von Emils freudig, quirligem Gewusel. Es ist wie wenn ich all meine Arbeit, meine Verantwortung und meine noch ungelösten Themen im Rucksack hätte.
Nach einiger Zeit kommen wir zum Tunnelweg. Es ist kalt und tropft. Ein perfekter Punkt für Max und Emil umzukehren. Alleine laufe ich ins Dunkle Nichts. Wo ist das Licht am Ende des Tunnels?
Der Weg führt mich weiter entlang der Stockach immer tiefer hinein in die saftig grünen Berge der Lechtaler Alpen. Vergleichsweise liebliche Täler, werden umsäumt von steilen Bergwänden, deren schroffe Kälte durch das Ummanteln mit Gras bis zu den Gipfeln hinauf aufgehoben wird.
Mein erstes Glücksgefühl kommt auf, als ich eine rotweiße Fahne sehe: die Sulzlalm. Ich raste kurz in der Sonne, doch ziehe schnell weiter. Durch meine Langsamkeit hab ich noch etwas vor mir. Ein Fahrweg schlängelt sich immer näher heran an mein Tagesziel: die Frederick-Simms-Hütte. Sie thront hoch über dem Tal, jedoch vor einer imposanten Felswand. Der Weg geht über in einen wackligen Geröllweg und spätestens jetzt weiß ich, dass die Entscheidung vom Hüttenwirt Jannik goldrichtig war. Ich hätte sie damals nicht getroffen. Ich hätte mich mit Bänderriss durchgeschleppt.
Vorbei an gelangweilten Kühen biege ich in die Zielgerade ein, besser gesagt auf die Zielserpentinen. Die Gott-Sei-Dank-Kurve empfängt mich schließlich und ich bin angekommen.
Es macht etwas mit mir wieder hier zu sein. Vielleicht habe ich die Erinnerung noch nicht ganz losgelassen, nicht nur diese, die des ganzen Jahres… vielleicht müssen alle Wunden noch etwas heilen und Platz machen für neue Träume, Sehnsüchte und ganz viele positiven Erlebnisse.
Jannik, der bemerkenswert junge Wirt, empfängt mich. Wir ratschen kurz über meinen letzten Aufenthalt. Für einen kurzen Moment habe er nur meine Stimme gehört, und mich mit Kaddi Kestler vom BR-Bergfreundinnen-Podcast verwechselt. „Schöne Podcast-Stimme“ ist sich mein ganzer Tisch einig. Vielleicht habe ich noch nie so sehr auf Stimmen geachtet und noch nie darüber nachgedacht, wie meine Stimme sich wohl anhört. Lustigerweise habe ich aber im letzten Jahr, als die Bergfreundinnen eine neue Dritte im Bunde suchten, kurz darüber nachgedacht mich zu bewerben. Nicht meiner scheinbar angenehmen Stimme wegen, sondern, weil es mir gefällt Geschichten und Eindrücke, die nur am Berg entstehen, zu teilen - so wie hier. Aufgrund meines damals noch nicht einschätzbaren Jobs hatte ich mich dagegen entschieden. Aber wer weiß, wo mich das Leben noch hinträgt…