Invalidentour - Wolfratshauser Hütte
Lermoos, wie lange war ich hier nicht mehr Skifahren? In meiner Erinnerung ist die Wolfratshauser Hütte, die mein heutiges Tagesziel sein soll, ein kurzes Schussstückchen von der Bergstation entfernt, maximal 1-2 Kurven. Die Bergbahn Grubigstein führt mich in zwei Sektionen hinauf zur Grubigalm.
Die Terrasse ist voll von Tagestouristen, die laut ratschend, lachend, zuprostend und schmatzend die Sommersonne genießen. Der malerische Blick auf die österreichischen Seite der Zugspitze trägt zu einer Gemäldeartigen Idylle bei.
Ich folge der „kurzen Schussstrecke“, einem im Sommer breiten Kiesweg. Ein schnaufender Mountainbiker kommt mir schwitzend entgegen. Er scheint einer der Wenigen zu sein, der mit Muskelkraft den Berg zu erklimmen versucht. Ich ertappe mich dabei sein Radl mit prüfendem Blick zu begutachten - meine neue Job-Branche hat mich wohl gedanklich schon eingenommen.
Die warme Spätsommersonne brennt herab. Jeder Schritt ist anstrengend und ich wünsche mir meine Skier her, die mich quasi anstrengungslos und blind zur Hütte bringen. Wie weit diese eine Kurve doch ist. An einer Abzweigung von Fahrweg zu schmälerem Pfad setze ich mich erschöpft auf mein Sitzkissen, schaue Richtung Zugspitze und denk mir kindlich „Wann bin ich endlich da?".
Doch wenige hundert Meter weiter erreiche ich schließlich die Terrasse der Wolfratshauser Hütte. Ein paar Tische sind besetzt. Ich richte mich häuslich ein und genieße - wie immer - erstmal ein alkoholfreies Weißbier. Ich werde der einzige Gast heute sein und suche mir ein Vierbettzimmer am Ende des Ganges aus. Eine Duschmünze schenkt mir drei Minuten heißes Wasser und den Wellnessmoment des Tages. Wie lange doch diese drei Minuten sind, denke ich. Wie viel diese drei Euro hergeben. Ein Geschenk…
Heute ist mein letzter Tag meiner „Invalidentour“ mit Bus, Bahn und Bergbahnen in Garmisch, Oberammergau, Reutte und Lermoos. Ich habe versucht das Beste aus meinem Innenbandanriss zu machen, etwas Positives herauszuziehen, mich nicht unterkriegen zu lassen und den so wichtigen Prozess der mentalen Verarbeitung dieses so seltsamen Jahres in irgendeiner Weise fortzuführen. Teilweise ist es mir gelungen wieder Abstand zu finden, mir Zeit für mich zu nehmen, Dinge zu reflektieren, zu justieren, nachzudenken und niederzuschreiben. Meinem ultimativen Allheilmittel des allein Wanderns, der permanenten Gehmeditation in den Bergen ist diese Alternative nicht gleich gekommen. Dennoch haben die Ergänzungstage ihren Dienst erwiesen.
Wieder schlage ich mein türkises Notizbuch auf, das mich schon so viele Wanderungen begleitet. Schmunzelnd denke ich an die Aussage des ungarischen Familienvaters an der Poolbar in Thailand im Juni:
„Schau, dass du in Balance bleibst“
Balance, welche Balance? Ich bin gerade (ab)gestürzt in den Lechtaler Alpen. Besser könnte kein Ereignis zur mangelnden Balance diesen Jahres passen. Mein Zustand gleicht einem Mängelexemplar - gebraucht zu kaufen, leicht beschädigt. „Wo ist denn die alte Nela, die, die immer lacht, immer Lösungen findet, voller Energie ist, inspirierend, motiviert“ fragte mich diese Woche ein Kollege. Eigentlich war es so schön Instandhaltungsleitung zu sein. Ich würde heute, an meinem letzten Wandertag, in den Stunden der kühlen Analyse, alles dafür geben mit einer Produktionsanlage zu tauschen: man wüsste beim Stillstand so schnell, welche Teile man tauschen müsste, welches Update aufgespielt werden müsste oder was umprogrammiert gehörte, um sofort wieder zu funktionieren. Wie schön wäre es, wenn man ein Dashboard in seinem Handy hätte, das sofort ausspucken würde, was zu tun ist. Wie schön wäre es doch, sich einfach kurz auf Werkseinstellungen zurücksetzen zu können oder auf das Backup jenen freien, inspirierenden, motivierenden, immer lachenden Ichs, das doch alle kannten. Wie schön wäre es, wieder so viel Leichtigkeit zu haben wie vor meinen so negativen Erfahrungen in diesem Jahr. Wie schön wäre es vor allem auch wieder so offen, frei und leicht auf Menschen zuzugehen, ganz ohne Enge auf meiner oder ihrer Seite. "Schau, dass du in Balance bleibst".
Diese Wandertage haben einen Beitrag geleistet auf dem Weg zurück zu meinen persönlichen Werkseinstellungen. Und mein Sturz und Austausch mit dem Rettungsteam haben mir nochmal die Augen geöffnet, welche doch vielen kleine Themen mich so sehr belastet haben. Dennoch: mein Bein ist noch dran, ich lebe noch, muss nicht rund um die Uhr mehrere Tage aufeinander arbeiten. Eigentlich hab ich es gerade mit meinem blauen Gesicht, meiner Knieschiene und meiner fehlenden Balance so richtig gut. Hier sitze ich nun mit meinem Kaiserschmarrn, schaue auf die Zugspitze, kein Handy klingelt, kein Termin wartet, keiner braucht was, keiner will was, meine Zeit gehört ganz mir, es gibt warmes Wasser, ein warmes Bett, gutes Essen und einen guten Wein. Was will man mehr?
Ich genieße noch ein paar Stunden diese Stille, lese mein Buch weiter, schreibe mir hier und da ein paar Notizen in mein heiliges Coachingnotizbuch, definiere Ziele, Maßnahmen, kleine Schritte in die richtige Richtung und hoffe, dass ich ganz bald schon wieder hier sitzen werde. Doch das nächste Mal als „alte“ Nela, spritzig, inspirierend, motiviert, offen, aber weder beengt noch beengend, ganz ohne Knieschiene, blaue Flecken und mentalem Job-Entsetzen. „Schau, dass du in Balance bleibst“. Es wird noch ein bisschen dauern, und dann, dann werde ich wieder aufbrechen zur Frederick-Simms-Hütte ohne Hubschrauber, sondern zu Fuß, um meine wunderbare Reise auf dem Lechtaler Höhenweg zu Ende zu wandern. Und vielleicht sollte alles so sein: dieses so seltsame Jahr, der schmerzhafte, aber doch so positive Jobwechsel, mein Sturz und all die daraus gewonnenen Begegnungen und Erkenntnisse. In Summe bin ich wahnsinnig dankbar, dass dieses turbulente Jahr mich über derartige Umwege zu diesem heutigen Moment geführt hat…
„Das ist kein Stillstand - Ich nehme Anlauf“ - Julia Engelmann
Und genau die wertvollste aller Begegnungen dieser Wandertour meldet sich just an diesem so ruhigen Abend und wir ratschen noch ein wenig. Danke für dieses schöne Geschenk.