Invalidentour Kreuzeckhaus
Bahncard 100 ich komme - Reisen mit Bus und Bahn, ich liebe es jetzt schon, doch ich gebe der Nachhaltigkeit eine Chance. Dies erfordert ein Investment: meine Zeit. Meine Zeit ist für mich das wertvollste Gut im Leben, wichtiger als Geld, Karriere, Status - ähnlich wichtig wie Gesundheit. Ja, man kann sich Zeit kaufen, durch gezieltes Outsourcing, aber Zeit hat eine Obergrenze. Sie kann nicht beliebig gedruckt werden, wie es die EZB mit unserer Währung macht. Sie kann in unserer Gesellschaft des Überflusses keinen Reichtum erzeugen. Man kann sie schätzen, man kann sie nutzen, man kann umpriorisieren, aber sie ist nicht vermehrbar.
Genau aus diesem Grund habe ich bisher wirklich alles in meinem Leben, nach der Zeit ausgerichtet. Viele Teile unserer Gesellschaft stellen nun Nachhaltigkeit an eine höhere Stelle. Ich liebe die Natur und ich möchte, dass wir auf unserer schönen Welt gut leben können. Dennoch liebe ich Effizienz und frage mich, ob ich mit einer produktiven Stunde nicht mehr Euro erwirtschafte, die besser wirken könnten als nutzlos in einem Zug zu sitzen. Ich verstehe beide Seiten und habe beschlossen im Rahmen meiner neuen Bahncard 100 statt dem Dienstwagen dem ÖPNV eine Chance zu geben. Also investiere ich Zeit.
Ich humpel mit 45min Vorlauf zum Hauptbahnhof. Gleis 5-8 steht in der App. Dort angekommen, steht natürlich nichts von einem Zug nach Garmisch. Ich warte auf Updates. Gleis 27, ja grandios. Da fahre ich öffentlich, weil ich es für Knieschonender gehalten habe und beeile mich nun schnellen Schrittes auf die gegenüberliegende Bahnhofsseite zu kommen.
Ich sitze neben einem IT-ler, Ende 20. Er schreibt noch fleißig auf seinem Schoß Mails und Teamsnachrichten. Bei Tutzing, wo immer kein Netz ist (willkommen in Deutschland!), kommen wir ins Gespräch. Er möchte heute Nachmittag den Klettersteig zur Alpspitze hochgehen. Drei Anläufe habe er bereits unternommen, doch jedes Mal sind Gewitterwolken aufgezogen. Ich drücke ihm die Daumen, dass es heute klappt. Stolz zeigt er mit Bilder von seinen Hochtouren in der Schweiz. Die Monte Rosa Hütte kann er ganz besonders empfehlen. Er macht mir Mut Gletscherwandern zu starten, ob zu Fuß oder als Skitour. Wir sehen noch ein paar Wanderbilder an und tauschen Empfehlungen aus. Wie ich diese Zufallsbegegnungen liebe!
Unsere Wege trennen sich in Garmisch. Ich nehme den Bus zur Kreuzeckbahn. Die Gondel bringt mich entlang der Kandaharabfahrt hoch. Ich erinnere mich an eine Skilehrerfortbildung, in der wir in Zweierteams hinunterfahren mussten: der Vordermann blind, der Hintermann zurufend. Eine der schönsten Erfahrungen überhaupt nur nach Gefühl zu fahren…
Von der Gipfelstation sind es ca. 20m bis zur Hütte, wo mich eine Vielzahl an Liegestühlen erwartet. Gemütlich setze ich mich mit meinem gewohnten alkoholfreien Weißbier in die Sonne und genieße den Blick auf Alp- und Zuspitze, auf die bunt umherschwebenden Paraglider und auf die sanften Schafwölkchen, die den Himmel bedecken. Und schnell bin ich wieder angekommen im Urlaubsmodus. Ich lese mein Buch weiter, mache ein paar Notizen, denke, sinniere, justiere und manchmal schlafe ich auch ein wenig. Es ist so ein traumhaft nutzloser Tag. Keiner stört mich, keiner meldet sich, keiner braucht mich. Nur die Berge, das Weißbier, dieser Liegestuhl und ich.